Young Sherlock Holmes 1
ganz sicherzugehen. Offensichtlich kannten sich seine Verfolger besser in der Gegend aus als er.
Sherlock entschloss sich abzuwarten, bis der Mann am Tunneleingang vorbeigegangen wäre. Dann würde er einfach wieder zurückgehen. Aber sein Plan wurde durch einen Tumult zunichte gemacht, der sich plötzlich hinter ihm erhob. Er drehte sich um und sah, wie der Standbesitzer dem Schurksen, der Sherlock durch den linken Tunnel gefolgt war, eine kleine Reiseuhr in die Hand zu drücken versuchte. Es war der glatzköpfige Mann mit den Blumenkohlohren und der zerquetschten Nase. Laut fluchend stieß der Schlägertyp ihn weg. Aber der Standbesitzer kam zurückgetippelt und sah unter seinem harten Deckenpanzer nun mehr und mehr aus wie irgendein Krustentier, das am Grunde des Meeres lebte.
Wieder versuchte er, dem Glatzkopf die Uhr in die Hand zu drücken. »Für Ihren Sohn! Für Ihren Sohn!«, kreischte er dabei aus vollem Hals. Der Ex-Boxer versetzte ihm wieder einen Stoß. Diesmal einen härteren. Der Standbesitzer strauchelte, kam gegen die Öllampe und schmetterte sie dabei gegen die Wand. Das Glas zersplitterte, und das Öl ergoss sich über die schmutzverkrustete Decke des Standbesitzers. Der noch brennende Docht fiel ebenfalls auf die Decke und setzte sie in Brand.
Rasch breiteten sich die Flammen aus, während der Standbesitzer eine Schrecksekunde lang einfach nur wie gelähmt auf der Stelle stand. Doch gleich darauf flitzte er, wild mit den Armen um sich schlagend, in den linken Haupttunnel hinaus. Panisch wichen die Leute vor ihm zurück. Dennoch stieß er mit einem Passanten zusammen, und augenblicklich sprang das Feuer auf dessen Gehrock über. Der Mann sprang zur Seite und schlug hastig mit der Hand auf die Flammen ein. Aber der einzige Erfolg bestand darin, dass er den ausladenden Reifrock einer Frau neben ihm in Brand setzte. Ein Pferd, das gerade am Halfter durch den Tunnel geführt wurde, ging beim Anblick der Flammen durch und schleifte seinen Besitzer hinter sich her.
Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich der Tunnel in ein Flammeninferno. In Windeseile fingen zunächst Kleidungsstücke Feuer, dann folgten die Stoffabdeckungen der Stände, bis diese – trotz ihres feuchten Holzes – selbst in Flammen aufgingen. Rauch und Dampf vermischten sich im Tunnel zu einem erstickenden Nebel. Entsetzt floh Sherlock vor Feuer und Rauch in den rechten Tunnel, der zum Glück noch frei von Flammen war.
In dem jedoch auch noch einer seiner Verfolger steckte.
Eine haarige Hand packte ihn an der Schulter.
»Hab ich dich, du Drecksack«, fauchte der Mann. Seine Jackenärmel waren so schwarz vor alten Schweißflecken, dass sie ganz steif und wachsig geworden waren. Der Gestank, den die Kleidung des Mannes verströmte, war unbeschreiblich.
Sherlock zappelte und wand sich unter seinem Griff. Aber es war sinnlos. Seine Finger bohrten sich hart in Sherlocks Schulter.
»Denny wird ’n Wörtchen mit dir reden wollen«, flüsterte der Mann und brachte sein Gesicht dicht vor Sherlocks. Sein Atem stank, als würde in seinem Mund eine Leiche verwesen. »Und ich glaub nich, dass dir sehr gefallen wird, was er zu sagen hat.«
Sherlock wollte gerade antworten, als er etwas auf dem Boden des Seitentunnels wahrnahm. Der von Rauch und Dampf verschleierte Grund schien sich plötzlich zu heben und dann wellenförmig auf und ab zu bewegen, als wäre er ein lebendiges Wesen. Gleich darauf erkannte er, dass er damit auch gar nicht so falsch lag. Allerdings handelte es sich nicht um
ein
Wesen, sondern um
Tausende …
Tausende von Ratten! In panischer Angst vor dem Feuer waren sie aus ihren Löchern und Schlupfwinkeln geflitzt und allesamt in eine Richtung gestürmt: weg vom Feuer. Ein lebender Teppich aus struppigem braunem und schwarzem Fell ergoss sich über den Tunnelboden. Menschen und Pferde wichen entsetzt vor der Masse aus Haaren, Zähnen und Schwänzen zurück. Ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern fortgezogen wurde, verlor den Halt und fiel hin. Im nächsten Augenblick waren auch schon Gesicht und Körper von einem Schwarm von Ratten bedeckt.
Der Mann, der Sherlocks Schulter gepackt hielt, lockerte seinen Griff, als die Tiere um seine Knöchel wuselten und ihn mit ihren winzigen Zähnen bissen. Fluchend schlug er mit einer seiner schaufelartigen Hände auf sie ein. Sherlock riss sich aus seinem Griff los, stürzte sich in die lebende Masse und griff nach dem Kind, das unter der wogenden Flut verschwunden war.
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