Young Sherlock Holmes 2
von gewaltigen Stürmen, die zuweilen wie schwarze Mauern am Horizont auftauchten und Schiffe so heftig auf den Wellen hin- und herwarfen, dass das Deck manchmal wie ein Kliff senkrecht in der Luft stand. Judkins erzählte all das mit dem lässigen Habitus eines Schauspielers, der das aufmerksame Publikum mit seinen Worten in den Bann zog und dabei den Eindruck vermittelte, dass Seereisen eine gefährliche Sache waren und man sich glücklich schätzen konnte, wenn man sie überlebte. Sherlock jedoch war klar, dass er das Ganze bloß inszenierte, um den Passagieren eine Art Unterhaltung zu bieten. Eine Show sozusagen, die die Fahrt in den Augen der Passagiere etwas aufregender machen sollte. Denn würde er ihnen erzählen, dass eine Seereise genauso langweilig sei wie ein Spaziergang im Park, was hätten seine Zuhörer dann schon ihren Freunden bei der Ankunft zu berichten?
Eine von Judkins Geschichten erregte Sherlocks besonderes Interesse. Judkins hatte von den diversen gescheiterten Versuchen gesprochen, auf dem Meeresgrund ein Kabel von Irland bis nach Neufundland zu verlegen, um so die telegraphische Kommunikation zwischen den Kontinenten zu ermöglichen. Wenn das gelang, konnten Nachrichten und Informationen mittels elektrischer Impulse so gut wie ohne Zeitverzögerung quer über den Atlantik übermittelt werden. Die Zeiten, in denen Nachrichten gut über eine Woche brauchten, um in per Schiff verfrachteten Postsäcken von einem Land zum anderen zu gelangen, wären vorbei. Die Idee der telegraphischen Kommunikation faszinierte Sherlock. Nach dem, was er vor kurzem in Amyus Crowes Cottage gelernt hatte, konnte er es bereits förmlich vor sich sehen, wie Buchstaben durch Kodes ersetzt würden, die problemlos mittels elektrischer Impulse übertragen werden konnten. Lange und kurze Impulse vielleicht oder einfach nur ein simples An-aus-System. Ein Kabel über dreitausend Meilen von Küste zu Küste auf dem Meeresgrund zu verlegen überstieg jedoch einfach seine Vorstellungskraft. Gab es denn nichts, was der menschliche Geist nicht vermochte, sobald er es sich einmal vorgenommen hatte? Laut Judkins waren bei dem ersten Versuch zwei Schiffe mitten auf dem Atlantik gestartet, um zwei Kabel in entgegengesetzten Richtungen zu verlegen, bis sie auf Land stießen. Doch das Ganze scheiterte schon daran, dass die beiden Besatzungen es nicht schafften, die Kabel auf hoher See miteinander zu verbinden. Die nächsten Versuche waren dann mit Schiffen unternommen worden, die von Irland aus starteten und sich nach Neufundland vorarbeiten sollten. Die Kabel rissen aber häufig und mussten immer wieder nach oben gezogen und repariert werden.
»Ich erinnere mich an eine Begebenheit«, erzählte Judkins leise mit seiner tiefen Stimme, »als ein gerissenes Kabel aus den tiefen Abgründen des Ozeans heraufgezogen wurde
und sich eine Kreatur daran festgeklammert hatte!
« Er sah unter seinen buschigen Brauen hervor und blickte sich mit funkelnden Augen am Tisch um. Diverse Passagiere, die die ganze Zeit schon an seinen Lippen hingen, schnappten aufgeregt nach Luft. »Eine gottlose Kreatur. Sah aus wie ein weißer Meeresohrwurm, wenn Sie sich das vorstellen können. Ganze sechzig Zentimeter lang und Beine mit vierzehn Krallen daran. Mit denen hat sie sich eisern am Kabel festgeklammert und wollte ums Verrecken nicht loslassen. Als die Besatzung das Kabel aufs Deck gezogen hat, hat sie noch gelebt. Aber nachdem sie aus ihrer natürlichen Umgebung, der Finsternis des Ozeangrundes, herausgerissen worden war, ist sie bald darauf krepiert.«
Eine Frau stieß unwillkürlich einen spitzen Schrei aus.
»Von den Leuten, die dabei gewesen sind, habe ich gehört«, fuhr Judkins fort, »dass die Kreatur gegart in etwa so wie Hummer geschmeckt hat.«
Das Publikum brach in erleichtertes Gelächter aus. Sherlock fing Amyus Crowes Blick auf. Auch Crowe lächelte.
»Ich habe ähnliche Geschichten gehört«, murmelte Crowe gerade so laut, dass Sherlock es noch hören konnte. »Die Dinger werden ›Riesenasseln‹ genannt. Sind so ähnlich wie Garnelen. Ihre erstaunliche Größe erreichen sie durch die Lebensbedingungen auf dem Ozeangrund.«
Bei dem Steward, der für Sherlocks Tischabschnitt zuständig war – tatsächlich saßen sie in Nähe des Kapitäns, wie Mycroft versprochen hatte –, handelte es sich um den dürren blonden Mann mit Bürstenhaarschnitt, den Sherlock auf dem Deck nach dem Weg gefragt hatte. Er nickte Sherlock zu, als er dem
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