Young Sherlock Holmes 2
er an den beiden Schornsteinen und den riesigen, baumstammartigen Masten vorbeikam. Anschließend passierte er den langen, flachen Aufbau des Gemeinschaftssalons der ersten Klasse, dessen Fenster zum Deck hinausgingen. Schließlich erreichte er das Heck. Wie ein Kometenschweif zog sich das weiße, schaumige Kielwasser hinter dem Schiff her. Darüber flog ein Schwarm Seevögel, die auf der Jagd nach verwirrten und desorientierten Fischen immer wieder in das Kielwasser hinabschossen.
Am Heck führte eine enge Treppe in die Tiefen des Schiffes. Davor hingen ein paar einfach gekleidete Männer herum. Zigarette rauchend, musterten sie die besser gekleideten Passagiere mit neugierigen Blicken. Sherlock vermutete, dass es sich bei ihnen um Zwischendeckpassagiere handelte. Reisende, die unter unhygienischen Verhältnissen eng zusammengepfercht unter Deck hausten und in rauen Hängematten oder auf harten Bänken schliefen, dafür aber auch für ihre Überfahrt sehr viel weniger zahlen mussten. Menschen, die eher aussahen, als würden sie nach Amerika reisen, um dort ein neues Leben zu beginnen, und nicht, um Geschäfte zu machen oder Vergnügungsreisen zu unternehmen, wie es bei den Passagieren der ersten und zweiten Klasse hauptsächlich der Fall zu sein schien.
Plötzlich spürte Sherlock, dass jemand neben ihm stand. Noch bevor er sich zur Seite wandte, wusste er, dass es Virginia, war.
»Wie ist deine Kabine?«, fragte er.
»Besser als die, die ich auf der Reise nach England hatte«, erwiderte sie. »Vater wird dir erzählen, dass das Essen und der Komfort dort besser gewesen sind. Aber lass dich von ihm nicht an der Nase herumführen. Wir sind damals zwar nicht im Zwischendeck gereist, aber auch nicht in der ersten Klasse, und nur weil es ein amerikanisches Schiff gewesen ist, war es deswegen nicht automatisch besser.«
»Was ist mit deiner Mitreisenden?«
»Sie ist eine ältere Witwe, die zu ihrem Sohn reist, der vor fünf Jahren nach New York gezogen ist. Sie hat ein Dienstmädchen, das im Bedienstetenbereich untergebracht ist. Und sie hat vor, die Bibel noch einmal von vorne bis hinten durchzulesen, bis wir in New York sind. Viel Glück dabei, kann ich nur sagen.«
»Hast du Lust, einen Spaziergang übers Deck zu machen?«, fragte er nervös.
»Warum nicht? Da wir ohnehin die nächsten acht Tage hier verbringen werden, können wir uns auch gleich mit der Umgebung vertraut machen.«
Sie schlenderten auf die andere Schiffsseite, die derjenigen gegenüberlag, auf der Sherlock gekommen war. Als sie am Erste-Klasse-Salon vorbeikamen, bedeutete Sherlock Virginia stehen zu bleiben.
»Ich will nur mal kurz einen Blick hineinwerfen«, sagte er.
Die Tür ließ sich nur schwer von außen öffnen, weil sie durch eine starre Feder gesichert war. Vermutlich, um zu verhindern, dass die Tür vom Wind aufgerissen wurde. Sherlock zog sie auf und blickte nach drinnen. Abgesehen von zwei ganz in weiß gekleideten Stewards, die einen langen Tisch in der Mitte des Salons mit Silberbesteck eindeckten, war niemand zu sehen. Um den Tisch standen circa fünfzig Stühle, was wahrscheinlich der Zahl der Erste-Klasse-Passagiere entsprach. Die Stewards blickten auf, nickten Sherlock und Virginia zu und fuhren gleich darauf mit ihrer Arbeit fort.
Der Salon war mit dunklem Holz getäfelt und ringsherum mit Wandspiegeln ausgestattet, um die Illusion von Tiefe und Weite zu erzeugen. An den Stellen, an denen keine Spiegel hingen, waren kunstvolle Wandmalereien in die hölzernen Paneele eingelassen. Von massiven Halterungen, die in regelmäßigen Abständen an der Täfelung montiert waren, hingen Öllampen herab.
»Hier essen wir also alle?«, fragte er.
Virginia nickte. »Alle zusammen«, antwortete sie. »Auf dem Schiff, mit dem wir hergekommen sind, war es genauso.«
»Lords und Ladys mischen sich also unter Industrielle und Theaterdirektoren«, fuhr er fort. »Sehr demokratisch. Keine Möglichkeit für die Hautevolee, dem Plebs zu entrinnen.«
»Richtig«, stimmte Virginia zu. »Es gibt auch keinen Kabinenservice. Entweder die Leute essen hier, oder sie bekommen überhaupt nichts zu essen.«
Einer der Stewards begann damit, Platzkärtchen auf dem Tisch zu verteilen. Sherlock fragte sich, wohin Mycrofts Schmiergeld sie wohl gebracht haben mochte. Jetzt, wo sie auf See waren, war alles möglich. Trotz des Bestechungsgeldes konnten sie durchaus am hintersten Ende des Tisches landen. Weit weg vom Kapitän, den Türen und direkt über
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