Young Sherlock Holmes 2
England werden die Möglichkeiten leider zunehmend schlechter«, antwortete Stone. »Ich hoffe, dass die Neue Welt Verwendung für mich hat, nachdem die Blüte der dortigen Männerwelt im Bürgerkrieg dahingerafft worden ist.« Nachdenklich betrachtete er Sherlock. »Mit deiner aufrechten Haltung und deinen langen Fingern könnte man denken, du spielst auch Violine. Stimmt das?«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Ich spiele überhaupt kein Instrument«, gestand er.
»Solltest du aber. Mädchen lieben Musiker.« Er neigte den Kopf zur Seite, fast als würde sich die Violine immer noch dort befinden. »Kannst du Noten lesen?«
Sherlock nickte. »Das hab ich in der Schule gelernt. Wir hatten da einen Chor und mussten jeden Morgen singen.«
»Würdest du gerne lernen, auf der Violine zu spielen?«
»Ich? Violine spielen? Meinen Sie das ernst?«
Stone nickte. »Wir haben noch eine ganze Woche, bis wir unser Ziel erreichen, und die Zeit wird schrecklich langsam vergehen, wenn wir nicht einen Weg finden, uns zu amüsieren. Wenn ich in New York bin, werde ich mich nach einer Stelle als Violinlehrer umsehen. Und da wäre es natürlich von Vorteil, wenn ich behaupten könnte, dass ich tatsächlich schon einmal einen Schüler im Violinenspiel unterrichtet habe. Ich habe zwar schon ein paar gute Ideen, wie ich den Unterricht gestalten werde, aber ich habe sie noch nie in die Praxis umgesetzt. Also, was sagst du? Bist du bereit, mir aus der Klemme zu helfen?«
Sherlock dachte einen Moment lang nach. Er spielte weder Whist noch Bridge, und die einzige Alternative der Freizeitgestaltung bestand darin, in mühseliger Arbeit den Platon zu übersetzen, den Mycroft ihm geschenkt hatte. Das hier klang doch sehr viel interessanter. »Ich kann nichts bezahlen«, sagte er. »Ich habe kein Geld.«
»Es werden keinerlei finanzielle Verpflichtungen auf dich zukommen. Du würdest mir einen Gefallen tun.«
»Was können Sie mir in einer Woche denn beibringen?«
Stone dachte einen Augenblick nach. »Wir können mit der Haltung beginnen«, erwiderte er. »Damit, wie du richtig stehst und die Violine hältst. Wenn du das zu meiner Zufriedenheit beherrschst, gehen wir zu den verschiedenen Rechte-Hand-Techniken über:
Détaché
,
Legato
,
Collé
,
Martelé
,
Spiccato
und
Sautillé
. Und sobald ich damit zufrieden bin, können wir uns den Linke-Hand-Techniken widmen: Drücken, Zupfen, Griffwechsel und
Vibrato
. Und dann heißt es nur noch üben, üben, üben: Tonleitern und Arpeggios, bis die Finger wund sind.«
»Ich habe zwar gesagt, dass ich Noten lesen kann, aber nicht, dass ich in der Lage bin, einen Ton zu halten«, gestand Sherlock. »Unser Chorleiter meint, ich hätte musikalisch völlig taube Ohren.«
»So etwas gibt es gar nicht«, sagte Stone wegwerfend. »Du magst vielleicht nicht richtig singen können, aber ich garantiere dir, dass du bis zum Ende der Woche eine Melodie spielen kannst, für die die Leute bereit sind, ein paar Münzen in den Kasten zu werfen – und wenn es nur eine deutsche Polka ist. Was meinst du?«
Sherlock grinste. Die Reise schien doch sehr viel interessanter zu werden, als er gedacht hatte. »Hört sich gut an«, sagte er. »Wann fangen wir an?«
»Auf der Stelle«, erwiderte Rufus entschieden. »Und wir hören erst zum Mittagessen wieder auf. Und jetzt nimm die Violine. Lass uns mal sehen, wie gut deine Haltung ist.«
In den nächsten drei Stunden lernte Sherlock, wie er richtig zu stehen hatte und wie Violine und Geigenbogen korrekt zu halten waren. Er brachte sogar ein paar Töne hervor, die sich allerdings anhörten, als würde man eine Katze erwürgen. Rufus Stone jedoch versicherte ihm, dass das gar nichts mache. Denn der Zweck ihrer morgendlichen Übungseinheit, so hob er hervor, bestehe nicht darin, zu lernen, wie sich das Violinenspiel an
hörte
, sondern wie es sich an
fühlte
. »Du musst bereit sein, aber zugleich auch völlig entspannt. Ich möchte, dass deine Arme, Finger und Schultern eins mit der Violine werden. Ich möchte, dass sich am Ende des heutigen Unterrichts diese Violine für dich wie eine Erweiterung deines eigenen Körpers anfühlt«, sagte Rufus. (»Nenn mich einfach Rufus«, hatte er gesagt, als Sherlock ihn mit »Mr Stone« ansprach. »Wenn du ›Mr Stone‹ sagst, hörst du dich für meinem Geschmack viel zu sehr wie ein Bankdirektor an.«)
Am Ende des Unterrichts schmerzte Sherlocks Körper selbst an Stellen, wo er zuvor nicht einmal Muskeln vermutet hätte. Seine
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