Young Sherlock Holmes 2
ihm gegenüber sitzenden Passagier einen Teller Suppe servierte.
Ohne Hummereinlage, was vermutlich ein Segen war.
Nach dem Abendessen hatte Sherlock Amyus Crowe in der Bar zurückgelassen und war ins Bett gegangen. Falls Crowe sich überhaupt zur Ruhe begeben hatte, dann hatte Sherlock zu diesem Zeitpunkt schon tief und fest in seiner Koje geschlafen. Denn als er aufwachte und sich fürs Frühstück fertig machte, hatte Crowe die Kabine bereits wieder verlassen. Wie es aussah, konnte er mit sehr wenig Schlaf über die Runden kommen.
Obwohl die Speisen auf See in einer engen Kombüse zubereitet wurden, war das Essen vorzüglich. Zu jeder Mahlzeit gab es etwas Besonderes, und die gespannte Erwartung, was beim Frühstück, Mittag- oder Abendessen gleich serviert werden würde, gehörte zu den Höhepunkten des Tages. Das Essen wurde immer frisch zubereitet, und obwohl sich die Anzahl der Tiere auf dem Vordeck während der Reise beständig verringerte, deutete von außen nichts darauf hin, dass sie geschlachtet wurden. Weder liefen irgendwelche Blutrinnsale über das Deck, noch war ein herzzerreißendes Blöken oder Quieken zu vernehmen, wenn die Tiere weggebracht wurden und sich ihrem Ende gegenübersahen.
Die Mannschaft verfügte offensichtlich über eine ganz eigene Routine, der sie schon jahrelang folgte.
Der Himmel war am ersten Tag wolkenlos und strahlend blau und die Wellen im Verhältnis zum Schiff so klein, dass sie nur gegen die Bordwände pitschten, ohne das Schiff auch nur im Geringsten ins Schwanken zu bringen. Sherlock hatte Geschichten über Stürme auf See gelesen, und er hatte mitbekommen, wie ein Ehepaar die Mitreisenden geängstigt hatte, indem es Schauergeschichten über zuvor erlebte fürchterliche Atlantiküberquerungen zum Besten gab, bei denen sich riesige Wellen über dem Schiff aufgetürmt hatten, die dann aufs Deck herabgekracht waren und dabei die Tiere über Bord gespült hatten. Bisher allerdings war der Ozean so ruhig gewesen, dass einige Passagiere auf einem freien Deckareal sogar Bowling spielten.
Die Zwischendeckpassagiere hatten einen eigenen, umzäunten Bereich, in dem sie ein wenig umhergehen und ihre Sachen waschen konnten. Dieser befand sich dort, wo die Treppe in die dunklen Bereiche des Schiffes hinabführte. In die engen, stickigen Decks, die mit nichts anderem ausgestattet waren als mit Hängematten, die von der niedrigen Decke baumelten. Der unangenehme Geruch von Körperausdünstungen, der manchmal aus der Treppenöffnung aufstieg, trieb einem das Wasser in die Augen. Wahrscheinlich war dort unten, wo kein Lüftchen wehte und weder Horizont noch Himmel zu sehen waren, die Seekrankheit ein ständiger Reisebegleiter. Kamen die Leute von unten an Deck, musterten sie die Erste-Klasse-Passagiere mit einem Ausdruck von unterdrücktem Groll oder starrten einfach nur zutiefst deprimiert auf die Planken. Jedes Mal, wenn Sherlock an ihnen vorbeikam, dankte er Gott, dass Mycroft für sie eine Reise in der ersten Klasse bezahlt hatte. Er wusste nicht, ob er das Leben im Zwischendeck überstehen könnte. Geschweige denn, wie das überhaupt jemand überstehen konnte.
Die riesigen Schaufelräder an beiden Schiffsseiten waren in ständiger Bewegung, angetrieben von den Dampfmaschinen, deren Vibrationen zu spüren waren, sobald man eine hölzerne Oberfläche berührte. Kurz nachdem Southampton hinter dem Horizont verschwunden war, hatte der Kapitän befohlen, die Segel zu entrollen. Aber so schlaff wie sie herabhingen, reichte der Wind wohl nicht aus, um das Schiff ohne die Kraft der Dampfmaschinen voranzubringen.
Am zweiten Tag hatte Sherlock nach dem Frühstück nicht mehr viel von Amyus Crowe und Virginia zu Gesicht bekommen. Virginia wirkte irgendwie bedrückt und hatte sich schon bald wieder in ihre Kabine zurückgezogen. Ihr Vater schien seine Zeit abwechselnd damit zu verbringen, nachzusehen, ob mit ihr alles in Ordnung war, und in der Kabine, die er mit Sherlock teilte, vor sich hinzugrübeln. Irgendetwas machte Virginia Sorgen. Sherlock versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie etwas über die Reise von Amerika nach England erwähnt hatte, die sie und ihr Vater unternommen hatten. Irgendetwas, abgesehen von der Tatsache, dass sie nicht in der ersten Klasse, aber auch nicht im Zwischendeck gereist waren. Er wusste noch, dass sie etwas Wichtiges zu ihm gesagt hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Aber er kam einfach nicht darauf, was genau es gewesen war.
Sherlock
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