Young Sherlock Holmes 2
den Maschinen, und außer sich zu beschweren, würden sie nichts dagegen unternehmen können. Sherlocks Vermutung nach waren sie der Gnade des Chefstewards ausgeliefert – eines Mannes also, der bereits bewiesen hatte, dass er bestechlich war.
Sherlock trat zurück und ließ die Tür wieder zufallen. In diesem Moment nahm er plötzlich wieder eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Als er zur Seite blickte, sah er gerade noch, wie jemand eilig im Durchgang zwischen den Salonaufbauten und dem nächsten Schornstein verschwand. Sherlock konnte nicht sagen, ob es sich um einen Seemann oder einen Passagier gehandelt hatte. Das Einzige, was er noch erhaschte, war eine kurz im Sonnenlicht aufleuchtende blaue Fläche in der Gegend des Handgelenks. Ein blauer Ärmelaufschlag vielleicht? Er war sich da nicht sicher.
Er stürmte zum Ende des Salons und blickte um die Ecke. Aber der Gang war leer, doch in der Mitte entdeckte er eine Luke, die offenbar in die Tiefen des Schiffes hinabführte. Wer immer sie auch beobachtet hatte, war verschwunden. Aber Sherlock wusste, dass die Sache damit nicht erledigt war. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass er jemanden dabei ertappt hatte, wie er ihn heimlich beobachtete. Jemand auf dem Schiff interessierte sich für sie, und das konnte nur eines bedeuten:
Mattys Entführer hatten einen Komplizen an Bord.
8
Sherlock gewöhnte sich schnell an die tägliche Schiffsroutine. Trotz der riesigen Größe des Schiffes waren die Bereiche, in denen sich die Passagiere bewegen konnten, ziemlich limitiert. Zwischen den Mahlzeiten verbrachten viele Leute ihre Zeit damit, auf dem Deck umherzuflanieren oder sich mit anderen Passagieren in der einen oder anderen Konversation über das ungewöhnlich ruhige Wetter zu ergehen. Andere hingegen zogen es vor, in einem der bequemen Sessel in der Bibliothek ein Buch zu lesen oder sich in kleinen Gruppen an Tischen im Rauchersalon oder in der Bar zu versammeln, um Bridge oder Whist zu spielen. Und damit hatten sich die Optionen auch schon erschöpft. Bei Sonnenuntergang gingen die Schiffsstewards umher und entzündeten die Öllampen. Allerdings stellten sie sie möglichst niedrig ein, so dass sich bald alle Welt zum Schlafen in die Kabinen zurückzog.
Die ersten paar Stunden auf dem Schiff hatte Sherlock damit zugebracht zu beobachten, wie die Heimat sich immer weiter entfernte, bis sie nur noch eine dunkle Linie am Horizont war. Den Moment, an dem sie tatsächlich verschwand, hatte er aber verpasst. Vielleicht hatte er gerade geblinzelt oder sich kurz abgewandt, um etwas anderes in Augenschein zu nehmen. Jedenfalls war England eben noch da gewesen, und im nächsten Moment glitt das Schiff auch schon mutterseelenallein auf der unendlichen Weite des Ozeans der untergehenden Sonne entgegen; und das einzige Anzeichen dafür, dass sie sich von der Stelle bewegten, war das weiß schäumende Band des Kielwassers, das sich hinter ihnen herzog.
Zusammen mit Amyus Crowe und Virginia hatte Sherlock sich dann beim Abendessen zu den anderen Passagieren gesellt. Doch während Crowe und Virginia sich in unbekümmerter Konversation mit den Leuten um sie herum ergingen, stellte Sherlock fest, dass er gar nichts zu sagen hatte. Stattdessen beobachtete er die anderen Passagiere beim Essen und fragte sich, wer sie wohl waren, woher sie kamen und wohin sie unterwegs sein mochten. Amyus Crowe hatte ihm bereits so einiges darüber beigebracht, wie man auf den Beruf einer Person schließen konnte. Ob Flecken auf den Ärmeln, Abnutzungsspuren auf dem Jackett oder Schwielen an den Händen – all das konnte viel über eine Person verraten, und Sherlock war sich ziemlich sicher, dass er einen Mann bereits als Buchhalter und zwei weitere als Pferdetrainer identifiziert hatte.
Der Kapitän, der Charles Henry Evans Judkins hieß, war er ein großer Mann, dessen Wangen ein eindrucksvoller weißer Backenbart zierte. Seine makellose, schwarze Uniform war mit gold schimmernden Litzen verziert und saß wie angegossen. Seine aufrechte Körperhaltung hatte etwas Militärisches. Bei den Ladys, die sich für das Abendessen allesamt in ihre besten Kleider geworfen hatten, war er die Attraktion schlechthin, und er wusste viele seltsame Geschichten aus seiner langen Zeit in den Diensten der Cunard Line zu erzählen. Am meisten beeindruckten sein Publikum die Berichte von Walen und Riesenkalmaren, die hin und wieder in der Ferne gesichtet worden waren. Und nicht zu vergessen die Erzählungen
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