Young Sherlock Holmes 2
Gemüse und Früchte gelagert oder vielleicht sogar angebaut. Und an einer anderen Stelle waren mit Sicherheit Fässer mit frischem Wasser verstaut. Ebenso wie auch Hunderte von Flaschen mit Wein, Champagner, Port, Brandy und Whisky, die für die Passagiere der ersten Klasse bestimmt waren.
Da nahm Sherlock aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, und rasch wandte er den Kopf um. Er konnte gerade noch sehen, wie sich eine dunkle Gestalt hastig in den Schatten eines der Rettungsboote zurückzog. Sherlock ging ein paar Schritte auf die Stelle zu, doch die Person war verschwunden. Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war es nur einer von den Passagieren gewesen.
Sherlock schlenderte weiter und beobachtete eine Weile, wie sich das Land auf der rechten Schiffsseite langsam entfernte. Zweifellos würde das Schiff auf seinem Westkurs zunächst der Küstenlinie folgen und dann, nachdem Cornwall umrundet war, die irische Küste ansteuern. Hatte man Irland hinter sich gelassen, würde es aufs offene Meer hinausgehen … in die ungefähr dreitausend Meilen lange Weite, die sich zwischen der irischen Küste und dem Hafen von New York erstreckte, zu dem sie unterwegs waren.
Sherlock war überrascht, wie stabil das Schiff im Wasser lag. Es schlingerte kaum von einer Seite zur anderen. Vielleicht würde das draußen auf dem Atlantik anders aussehen, doch vorerst schienen die Größe und das Gewicht des Schiffes es gut vor den relativ kleinen Wellenbewegungen hier an der englischen Küste zu schützen. Unwillkürlich musste Sherlock an das kleine Boot denken, in dem er und Matty von Baron Maupertuis’ Seefestung zur Küste in der Nähe von Portsmouth zurückgerudert waren. Diese Fahrt war entsetzlich gewesen, und er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, so etwas noch einmal zu erleben.
Auf einmal fühlte er sich sehr einsam. England und alles, was ihm etwas bedeutete – sein Zuhause, seine Familie, selbst die Schule – blieben langsam, aber stetig immer weiter hinter ihm zurück. Und alles, was vor ihm lag, waren unwägbare Überraschungen: eine neue Welt, fremde Menschen und Gebräuche. Und Gefahren. Sherlock wusste nicht, was die Männer, die John Wilkes Booth gefangen hielten, im Schilde führten. Aber ganz offensichtlich hatten sie einen Plan, und um diesen Plan geheim zu halten, waren sie bereit zu töten. Und hier stand er nun, ein Junge, der in etwas hineingeraten war, das mindestens eine Nummer zu groß für ihn war.
Und Matty. Was war nur mit Matty? Sherlock bezweifelte, dass es ihm so gut ging wie ihnen hier auf der
SS Scotia.
Vermutlich hatte man ihn gefesselt oder zumindest irgendwo in einer Kabine eingesperrt. Vielleicht hatten seine Entführer ja auch eine Vereinbarung mit ihm getroffen. Schließlich befanden sich alle an Bord eines Schiffes, von wo es kein Entkommen gab. Wenn er versprach, keine Schwierigkeiten zu machen, konnten sie ihn eigentlich frei herumlaufen lassen. Allerdings konnte Matty auch ziemlich störrisch sein, und womöglich hatte er sich geweigert zu kooperieren.
Das alles setzte natürlich voraus, dass er noch lebte. Amyus Crowe und Mycroft waren beide zu dem Schluss gekommen, dass das der Fall war. Aber Sherlock war sich absolut darüber im Klaren, dass Schlussfolgerungen nichts anderes waren als in ein Meer der Phantasie gerichtete Vorhersagen auf Basis weniger bekannter Fakten. Waren die Fakten falsch oder ging die Vorhersage nicht in die richtige Richtung, wäre die letztendliche Schlussfolgerung höchst unpräzise. Und Matty vielleicht tot. Die Amerikaner hatten sich womöglich dagegen entschieden, sich auf der Reise mit einem lebenden Gefangenen abzuplagen. Vielleicht hatten sie Matty noch in England einfach die Kehle durchgeschnitten und seine Leiche am Straßenrand liegenlassen. Bei der übermittelten Botschaft konnte es sich genauso gut auch bloß um einen Trick gehandelt haben, um einen verzweifelten Versuch, Amyus Crowe davon abzuhalten, sich einzumischen, ohne tatsächlich etwas in der Hinterhand zu haben.
Missmutig schlenderte Sherlock schließlich entlang der Reling wieder zurück. Nach einer Weile hatte er in dem Gewimmel an Deck etwas die Orientierung verloren, und so fragte er einen Steward nach dem Weg, einen dürren Mann in tadelloser Uniform und mit einem blonden Bürstenhaarschnitt, der unter seiner Mütze hervorlugte. Nachdem Sherlock herausgefunden hatte, wohin er sich wenden musste, umkurvte er zunächst diverse Gruppen enthusiastischer Reisender, bevor
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