Young Sherlock Holmes 2
stand gerade an der Reling und starrte auf die Wogen, als plötzlich vom Heck her Musik erklang. Sie schien ebenso leicht über dem Schiff zu schweben wie die Seemöwen, die dem Kielwasser folgend in der Luft segelten und dabei kaum die Flügel bewegten. So wie es sich anhörte, stammte die Musik von einer Violine. Sie spielte eine Melodie, die sich zu immer höheren Tönen emporschwang, um dann bei Erreichen des höchsten eine kurze Pause zu machen und gleich darauf wieder in tiefere Tonlagen abzufallen.
Sherlock verließ seine Position an der Reling und ging auf das Heck zu, um nach der Quelle der Musik Ausschau zu halten. Auf dem Schiff gab es herzlich wenig Unterhaltungsmöglichkeiten. Da musste man natürlich alles, was geeignet war, die Tagesmonotonie zu durchbrechen, dankbar begrüßen.
Hinter den langgestreckten Aufbauten des Erste-Klasse-Salons stand ein Mann und spielte Violine. Es war der Fremde, dem Sherlock bereits am Tag zuvor begegnet war, als sie Southampton verlassen hatten: der Mann mit dem langen schwarzen Haar und den grünen Augen. Er trug immer noch das gleiche Kordjackett und die gleiche Kordhose, schien jedoch das Hemd gewechselt zu haben. Er hielt die Violine an den Hals gepresst und den Kopf dabei so geneigt, dass er mit dem Kinn den Klangkörper fixierte, während die Finger seiner linken Hand den Geigensteg bearbeiteten und die rechte den Bogen über die Saiten führte. Er hatte die Augen geschlossen und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefster Konzentration. Sherlock hatte noch nie zuvor so eine Melodie gehört: Sie klang wild, romantisch, aufgewühlt – und hatte so gar nichts von der mathematischen Strukturiertheit der Stücke von Mozart und Bach, die er von den Aufführungen an der Deepdene-Knabenschule kannte.
Einige Passagiere hatten sich um den Mann versammelt und lauschten der Musik mit andächtigem Lächeln. Wieder brachte der Geigenspieler die Melodie zum höchsten Ton, hielt ihn kurz und brach dann jäh ab. Lächelnd und mit geschlossenen Augen hielt er die Violine einen Moment lang noch ans Kinn gedrückt, dann ließ er das Instrument sinken und öffnete die Augen. Die Menge applaudierte. Er verneigte sich. Der Violinenkasten lag vor ihm aufgeklappt auf dem Deck und einige Passagiere warfen ein paar Münzen hinein, bevor sie wieder davonschlenderten.
Sherlock und der Violinenspieler blieben alleine zurück. Der Mann ging in die Hocke, um die Münzen aus dem Kasten aufzuklauben, und blickte dann zu Sherlock empor.
»Hat es dir gefallen, mein Freund?«
»Das hat es. Wenn ich Geld hätte, würde ich Ihnen auch was geben.«
»Nicht nötig.« Er richtete sich wieder auf. Die Violine und den Bogen hatte er in den Kasten gelegt. »Das Geld reduziert sozusagen meine Fahrtkosten und erlaubt mir hin und wieder ein kleines Extra in Form eines Drinks. Aber ich versuche nicht, mit dem Violinenspiel meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Jedenfalls nicht hier auf dem Schiff. Aber ich muss sehen, dass ich in Übung bleibe, und mein Kabinengenosse scheint außer deutschen Polkas nichts zu mögen.«
»Was war das für ein Stück?«
»Ein erst kürzlich geschriebenes Violinkonzert in G-Dur. Von einem deutschen Komponisten namens Max Bruch. Ich bin ihm letztes Jahr in Koblenz begegnet. Er hat mir eine Kopie der Partitur geschenkt. Seitdem übe ich es regelmäßig. Eines Tages wird es bestimmt zum Repertoire eines jeden klassischen Violinisten gehören.«
»Es hat einfach unglaublich geklungen.«
»Der Komponist hat einige Ideen aus Felix Mendelssohns Werken aufgenommen, sie aber mit seinem eigenen, ganz besonderen Glanz verschönert.«
»Sind Sie Berufsmusiker?«
Der Mann ließ ein breites Lächeln sehen, ein natürliches, ungezwungenes Grinsen, das seine starken weißen Zähne enthüllte. »Manchmal schon«, sagte er. »Ich verstehe mich auf so einige Berufe. Aber irgendwie kehre ich immer wieder zur Violine zurück. Ich habe schon mit Orchestern in Konzerthallen und mit Streichquartetten in den Salons der höheren Kreise gespielt. Ich habe auf der Straße musiziert und Sänger in Varietétheatern begleitet, wo die Bierkrüge über unsere Köpfe hinwegflogen und hinter uns auf der Bühne zersplitterten. Ach übrigens, mein Name ist Stone. Rufus Stone.«
»Ich bin Sherlock Holmes.« Sherlock ging auf ihn zu und sie schüttelten sich die Hände. Stones Händedruck war fest und stark. »Gehen Sie deswegen nach Amerika?«, fragte Sherlock. »Um Violine zu spielen?«
»Ja, in
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