Young Sherlock Holmes 2
vermutlich nicht so denken werden.«
Sherlock musste lächeln. Der Deutsche war ihm ziemlich sympathisch.
»Wir sehen uns bestimmt später noch«, sagte er.
»Es ist ja ein kleines Schiff«, erwiderte der Graf. »Und es sind auch nicht besonders viele Menschen an Bord. Wir werden uns garantiert wieder über den Weg laufen.«
Sherlock ließ den Grafen zurück und ging auf Virginia zu.
»Ich hatte schon Angst, du würdest die ganze Reise in deiner Kabine bleiben«, brachte er unbeholfen hervor.
»Das habe ich auch befürchtet«, antwortete sie. »Ich halte mich nur äußerst ungerne in geschlossenen Räumen auf. Aber ich hatte keine andere Wahl.« Plötzlich wurde sie rot. Sherlock konnte buchstäblich sehen, wie ihr die Farbe in die blassen Wangen strömte, und verlegen wandte sie den Blick ab. »Ich vermute – ich vermute, Vater hat dir erzählt, dass mich das alles hier zu sehr an die letzte Reise erinnert hat … auf der meine Mutter gestorben ist.«
»Hat er«, bestätigte Sherlock.
»Und, um es noch schlimmer zu machen, ich werde außerdem immer seekrank. Dabei sollte man doch denken, dass jemand der reitet, nicht seekrank werden kann. Aber mir war kotzübel.«
Sherlock musste lächeln. Diese vollkommene Aufrichtigkeit war eines der Dinge, die er an Virginia besonders schätzte. Kein englisches Mädchen wäre auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen, in solch drastischer Weise auf die Aspekte ihres Magenbefindens einzugehen.
»Wie fühlst du dich jetzt?«, fragte er.
»Die Lady, mit der ich die Kabine teile, macht mir immer Kräutertee. Heute ist der erste Tag, an dem ich ihn nicht gleich wieder ausspucken musste. Ich glaube, er hilft.«
»Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid«, sagte er unbeholfen. »Und es tut mir leid, dass die Reise dich so an sie erinnert. In England zu sein erinnert dich auch die ganze Zeit an sie, oder?«
»Tut es.« Sie hielt inne. »Ich weiß nicht, ob sie schon krank war, als wir an Bord gegangen sind, oder ob sie sich auf dem Schiff etwas zugezogen hat. Aber eine ganze Woche lang ging es ihr entsetzlich schlecht. Sie wurde dünner und dünner und immer blasser, und dann ist sie einfach von uns gegangen.« Eine Träne kullerte langsam ihre Wange hinab. »Sie haben sie auf See bestattet. Der Kapitän sagte, dass man den Körper nicht für den Rest der Reise an Bord lassen könne. Also haben sie sie in Leinen gehüllt, ein paar nette Worte gesprochen und sie dann einfach über Bord geworfen. Das ist das Schlimmste. Ich hab nicht einmal ein Grab, das ich besuchen kann.« Sie wies mit der offenen Hand auf die Weite des Ozeans. »Nur das.«
Sherlock schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Meine Mutter ist krank.« Er hatte nicht gewusst, dass er das gleich sagen würde. Die Worte waren einfach so aus ihm hervorgesprudelt.
»Was ist mit ihr?«, fragte Virginia.
»Niemand redet offen darüber.« Er hielt inne. »Ich glaube, sie hat Schwindsucht.«
»Schwindsucht?«
»Tuberkulose. Sie ist blass und dünn, und sie ist die ganze Zeit über müde. Und manchmal sehe ich Blut in ihrem Taschentuch, wenn sie hustet. Auch wenn mein Bruder und mein Vater alles versuchen, damit ich das nicht mitbekomme.« Jetzt, da er einmal begonnen hatte, konnte er gar nicht mehr mit dem Reden aufhören. »Also bin ich in die Bibliothek meines Vaters gegangen und hab in so viele Bücher geschaut, wie ich nur konnte, bis ich was über diese Symptome gefunden habe. Sie hat Tuberkulose, und sie wird daran sterben. Es gibt keine Chance auf Genesung. Wer daran erkrankt, siecht einfach dahin, nach und nach.«
Virginia trat näher an ihn heran und legte ihren Kopf einen Augenblick an seine Schulter, bevor sie sich wieder entfernte. »Zumindest hat meine Mutter nicht lange leiden müssen«, sagte sie und blickte zu ihm auf. »Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber vermutlich war das ein Segen. Mit anzusehen, wie sie über Wochen, Monate, Jahre langsam stirbt … das muss einfach furchtbar sein.«
Sherlock wandte sich ab, damit sie die Tränen nicht sah, die ihm in den Augen brannten.
»Ob wir ihn wirklich finden werden?«, flüsterte sie.
»Wen finden?«
»Matty.«
Sherlock schnürte sich der Hals zu, und das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. Die gleiche Frage hatte er sich schon etliche Male gestellt. Und immer noch war er der Antwort keinen Deut näher gekommen.
»Wir werden ihn finden«, versicherte er. »Und er wird in Ordnung sein. Seine Entführer haben allen Grund, ihn am
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