Young Sherlock Holmes 3
allein hatten. Die Sitze waren gepolstert und bequem. Der Dampf der Lokomotive zog wie eine tiefe Wolkenbank am Fenster vorbei, während Sherlock durch einzelne Lücken zusah, wie sich die Landschaft vor ihnen ausbreitete.
Kurz hinter Woking kontrollierte ein Schaffner ihre Fahrkarten. Als er das Abteil wieder verließ und die Tür hinter sich zuschob, ergriff Crowe das Wort. »Was hältst du von dem Mann, der gerade hier war?«
Da Sherlock wusste, wie Crowe dachte, hatte er eine solche Frage erwartet.
»Seine Schuhe wurden vor kurzem blankpoliert«, antwortete er. »Und sein Hemd ist frisch gebügelt. Entweder hat er ein Dienstmädchen oder er ist verheiratet. Und da ich nicht annehme, dass sich ein Schaffner fürs Hemdenbügeln ein Dienstmädchen leisten kann, ist meiner Vermutung nach die Wahrscheinlichkeit größer, dass er verheiratet ist.«
»So weit, so gut«, knurrte Crowe.
»Seine Frau ist älter als er«, versuchte Sherlock sein Glück.
»Woraus schließt du das?«
»Er ist in den Dreißigern. Aber sein Stehkragen ist altmodisch geschnitten. Er sieht aus wie die von meinem Onkel. Allerdings ist er nicht abgetragen. Somit ist nicht davon auszugehen, dass er ihn schon jahrelang trägt. Es muss also so sein, dass, wer immer auch für seine Kleidung verantwortlich ist, den älteren Stehkragenschnitt bevorzugt. Wenn es sich in dem Fall um seine Frau handelt, muss sie also älter sein als er.«
»Du vergisst die Möglichkeit, dass er eventuell eine jüngere Frau hat, die aus einer altmodisch orientierten Familie kommt. Aber deine Erklärung ist tatsächlich die wahrscheinlichste«, räumte Crowe ein.
»Und er hat eine leichte Sehschwäche auf dem rechten Auge«, schloss Sherlock triumphierend.
Crowe nickte. »In der Tat. Was hat dir das verraten?«
»Seine linke Gesichts- und Halshälfte ist sorgfältig rasiert, aber rechts sind noch Stoppel zu erkennen. Daraus schließe ich, dass er Probleme mit dem rechten Auge hat.«
»Exzellent. Du machst sehr gute Fortschritte, was das Observieren anbelangt.«
»Hab ich noch was übersehen?«, fragte Sherlock und lächelte.
Crowe zuckte die Schultern. »Einige Punkte sogar. Der Mann war zuvor schon einmal verheiratet. Aber seine Frau ist gestorben. Die aktuelle Ehe ist kinderlos, was seiner Frau ziemlich zu schaffen macht. Oh, und ich glaube, dass er der Eisenbahngesellschaft Geld entwendet. Aber das ist vielleicht schon etwas weit hergeholt.«
Sherlock musste lachen. »Woraus können Sie das alles schließen?«
»Erfahrung«, sagte Crowe nur und lächelte. »Das und mein Naturtalent. Eines Tages wirst du dazu auch in der Lage sein.«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich«, sagte er lachend. »Das bezweifle ich wirklich.«
3
Die Fahrt nach Waterloo Station kam Sherlock kürzer vor, als er sie in Erinnerung hatte. Crowe war die ganze Zeit über schwer in Form. Unermüdlich zog er Schlussfolgerungen über die unterschiedlichsten Leute, die den Waggon bestiegen oder an den Bahnhöfen, an denen sie vorbeikamen, auf den Bahnsteigen standen. Nur um Sherlock zu necken, verwickelte er hin und wieder manche Leute in ein Gespräch und brachte sie dazu, sich über die Dinge auszulassen, die er Sherlock bereits kurz zuvor skizziert hatte. Die vorherige unangenehme Dissonanz, die wegen Rufus Stone zwischen ihnen aufgekommen war, schien sich in nichts aufgelöst zu haben.
Nachdem der Zug sich die letzten Meter in den Bahnhof geschleppt hatte und am Bahnsteig zum Halten gekommen war, stiegen die beiden aus und marschierten durch die Bahnhofshalle, um eine Droschke aufzutreiben.
Sherlock hatte das laute und bunte Treiben in Waterloo Station schon einmal erlebt. Aber als er und Amyus Crowe sich den Weg durch eine besonders dichte Menge von Männern mit Zylinderhüten bahnten, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er sich vorstellte, durch eine triste Landschaft von Industrieschloten zu wandeln, die sich über düsteren Fabriken erhoben. Der Dampf der Lokomotiven, der durch den Bahnhof waberte, verstärkte diesen Eindruck sogar noch. Irritiert und verärgert versuchte er, das Bild zu verdrängen. Es kam nicht oft vor, dass er von solchen Phantasiebildern heimgesucht wurde. Und er mochte es ganz und gar nicht, wenn das passierte. Schließlich gab es keinen logischen Weg, der einen von Zylinderhüten zu qualmenden Industrieschloten führte. Es war ein poetischer Vergleich, kein analytischer. Und natürlich keiner, den Amyus Crowe gutheißen würde.
Ganz im
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