Young Sherlock Holmes 3
Gegensatz vermutlich zu Rufus Stone. Der Gedanke ließ ihn in unbehagliches Schweigen versinken.
Draußen vor dem Bahnhof rief Crowe eine Droschke herbei. Da sie nur einen Tag in London waren, hatten sie kein Gepäck. Also stiegen sie einfach ein und waren zur Abfahrt bereit.
Bei der Droschke handelte es sich um kaum mehr als eine in Fahrtrichtung offene Box auf zwei Rädern. Eine Box, bei der der Kutscher erhöht hinter dem Verdeck saß und die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, das durch Ledergeschirr und Zügel mit dem Gefährt verbunden war.
»Zum Diogenes Club«, rief Crowe zum Kutscher hinauf.
»Wo ist das, Mister?«, rief der Mann zurück.
»Fahren Sie zuerst zur Admiralität«, antwortete Crowe mit lauter Stimme. »Von da an werde ich Sie lotsen.« Crowe ließ sich auf seinen Sitz sinken, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. »Der Club existiert erst ungefähr ein Jahr«, sagte er im Plauderton. »Dein Bruder ist wohl so was wie einer der Gründer, wie er mir erzählt hat. Der Club ist nach dem griechischen Philosophen Diogenes von Sinope benannt. Diogenes war einer der Begründer der kynischen Philosophie oder des Kynismus, wie die dafür gängige Bezeichnung lautet.«
»Den Begriff habe ich schon mal gehört«, sagte Sherlock. »Aber ich weiß nicht genau, was er bedeutet.«
»Der Kynismus basiert darauf, dass der Sinn des Lebens darin besteht, ein tugendhaftes Leben in Einklang mit der Natur zu führen. Was in der Praxis bedeutet, dass jedes konventionelle Verlangen nach Reichtum, Macht und Ruhm abzulehnen und ein einfaches Leben ohne jedwede Besitztümer anzustreben ist. Da ist eigentlich nichts Schlechtes dran, auch wenn es natürlich mehr oder weniger jeglichen industriellen Fortschritt in einer Gesellschaft ausschließt. Die Kyniker glaubten auch, dass die Welt gleichermaßen allen Menschen gehört. Und dass Leid zum einen durch falsche Beurteilungen dessen entsteht, was wichtig und wertvoll ist, und zum anderen durch die wertlosen Sitten und Konventionen, mit denen sich eine Gesellschaft umgibt.« Er schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht genau, inwieweit diese Prinzipien für deinen Bruder oder den Club gelten. Aber du solltest wissen, dass der Diogenes Club eine sehr strenge Regel hat: Niemand darf dort sprechen. Nicht ein Wort. Die einzige Ausnahme bildet der Besucherraum, wo sich meiner Vermutung nach dein Bruder mit uns treffen wird. Wenn nicht, haben wir einen ungemütlichen Tag vor uns.«
Die Droschke ratterte über die Westminster-Bridge und Sherlocks Aufmerksamkeit wurde von den diversen Typen von Ruderbooten in Anspruch genommen, die auf dem dreckig braunen Wasser der Themse unterwegs waren. »Haben Diogenes und Platon eigentlich zur gleichen Zeit gelebt?«, fragte er, als ihm plötzlich Platons Buch
Der Staat
einfiel, das ihm sein Bruder vor seiner Fahrt nach Amerika geschenkt hatte.
»Haben sie«, antwortete Crowe. »Und sie sind nicht sehr gut miteinander ausgekommen. Aber das erzähle ich dir ein andermal.«
Am Nordufer der Themse bog die Droschke erst nach links und dann gleich wieder nach rechts auf eine breite, dreispurige Straße ab. Vor ihnen am Ende der Straße erkannte Sherlock Trafalgar Square mit dem Denkmal von Lord Nelson, das er gesehen hatte, als er das letzte Mal in London gewesen war.
Ein paar Sekunden später kam die Droschke zum Halten. Die beiden stiegen auf den Bürgersteig hinab, und Crowe entlohnte den Kutscher mit ein paar Pence.
Sie befanden sich nun am Ende der breiten, dreispurigen Prachtstraße, wo diese eine Kurve beschrieb und dann in eine andere Straße überging. In eine Hauswand vor ihnen war eine kleine Tür eingelassen. Neben dem Eingang hing eine Messingtafel.
The Diogenes Club
war dort in eingravierten Buchstaben zu lesen.
Crowe klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür. Wenige Augenblicke später schwang sie nach innen auf. Crowe ging voran und zog dabei den Kopf ein, um dem niedrigen Türsturz auszuweichen. Sherlock folgte.
Sie gelangten in eine schmale, mit Eichenholz getäfelte Eingangshalle, deren Fußboden aus Marmor bestand. Vor ihnen führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf. Durch eine offene Tür an der Seite bot sich ein Blick in einen großen Raum, der dicht mit grünen Ledersesseln möbliert war. Die Stille war so erdrückend, dass Sherlock fast das Gefühl überkam, als würde sich ein Schraubstock um seine Ohren legen. Unterstrichen wurde die Atmosphäre noch vom Ticken einer irgendwo im Schatten
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