Young Sherlock Holmes 3
rückten ihm nun von fast allen Seiten auf die Pelle. Nur der Weg zur Mauer war noch frei.
Er rannte auf sie zu und sprang, als er nur noch einen Meter von ihr entfernt war. Fieberhaft scharrten seine Hände und Füße über das Mauerwerk. Und er hatte Glück. Wie durch ein Wunder fanden seine Finger augenblicklich in zwei größeren Ritzen zwischen den Ziegelsteinen Halt. Gleich darauf stießen seine Schuhspitzen in zwei Löcher, aus denen Teile des alten Mauerwerks herausgebröckelt waren. So ans Mauerwerk gekrallt, zog und stemmte er sich keuchend immer weiter an der Wand empor. Er kletterte, so weit er konnte, während die Schwerkraft an ihm zerrte.
Unten huschten die wilden Kinder hinter ihm her die Mauer hoch. Aber die starke Wölbung des Bogens verriet ihm, dass er nun bereits der Tunnelmitte ziemlich nahe war.
Er stieß sich von der Mauer ab. Halb fallend, halb über ihre Köpfe hinwegspringend, landete er auf dem matschigen Boden in der Tunnelmitte. Er strauchelte und kam wieder auf die Beine. Bevor die Kinder begriffen, was er getan hatte, wandte er sich um und rannte in die Finsternis – die einzige Richtung, in die er entkommen konnte.
Innerhalb von Sekunden hatte die Dunkelheit ihn verschluckt. Irgendwo hinter sich hörte er das Patschen von nackten Füßen auf feuchter Erde. Kein Zweifel, sie waren hinter ihm her.
Er lief weiter und verließ sich zunächst auf sein Glück, um nicht gegen eine Tunnelmauer zu rennen. Ob sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten oder von irgendwo über ihm doch etwas Licht in den Tunnel drang, jedenfalls stellte er bald fest, dass er die Ränder des Ziegelmauerwerks gerade so eben erkennen konnte, während er durch den Tunnel voranhastete.
Plötzlich nahm er seitlich die gewölbten Umrisse eines Torbogens wahr: ein weiterer Tunnel, der in den mündete, durch den er gerade lief. Er machte einen abrupten Schlenker und lief diese zweite Tunnelröhre hinab. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, seinen Verfolgern zu entkommen, dann nur, indem er sie verwirrte. Er musste versuchen, sie hinsichtlich seiner Fluchtwege mit zu vielen Entscheidungsmöglichkeiten zu konfrontieren.
Rannte er einfach nur weiter geradeaus, würden sie ihn mit Sicherheit erwischen. Und dann, na ja, er war sich alles andere als sicher, ob die versprochene Half-Crown reichen würde, um ihren unbändigen Hunger im Zaum zu halten …
Der Tunnel endete in einer schwarzen Mauer, und beinahe wäre Sherlock geradewegs hineingerannt. Lediglich eine vage Veränderung in der Beschaffenheit der übel riechenden Luft warnte ihn davor, dass sich ein Hindernis vor ihm befand. Er blieb abrupt stehen und streckte neugierig die Hand aus. Die Mauer ragte etwa einen halben Meter vor ihm in die Höhe. Hätte er sie nicht rechtzeitig bemerkt, wäre er dagegengelaufen, wahrscheinlich k.o. gegangen und zu einer leichten Beute für seine Verfolger geworden.
Würde er jetzt zurück müssen? Und versuchen, einen Weg an seinen Verfolgern vorbei zu finden?
Ein Luftzug wehte ihm ins Gesicht, warm und flau, aber definitiv ein Luftzug. Vielleicht war dies überhaupt keine Sackgasse. Vielleicht handelte es sich ja nur um eine Abzweigung.
Er wandte sich nach links und setzte sich mit ausgestrecktem Arm in Bewegung, für den Fall, dass er wieder auf ein Hindernis stieß. Doch das tat er nicht. Der Tunnel setzte sich fort – in welch neue Hölle auch immer er ihn führen mochte.
Ein plötzlich einsetzendes, donnerndes Grollen über ihm ließ ihn zusammenfahren. Es schien ewig anzudauern. Ölige Wassertropfen lösten sich von der Tunneldecke über ihm und platschten ihm auf den Kopf. Ein Zug, womöglich? Vermutlich befand er sich unter den Bahngleisen, die aus Waterloo Station hinausführten.
Vielleicht war es ja ein Zug, der nach Farnham fuhr. Dorthin, wo seine Freunde waren. Ob er sie wohl jemals wiedersah? Oder würde er hier unten sterben, allein in der Finsternis und für immer verschollen?
Er spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte. Irgendwo da oben befand sich eine ruhige, geordnete Welt, in der sich gut gekleidete Menschen zielstrebig hin- und herbewegten und ihren Geschäften nachgingen. Dort oben gab es den blauen Himmel, solide Ziegelmauern, feste Marmorböden und das tröstliche Licht von Gaslaternen. Dort oben war es wie im Himmel. Hier unten jedoch gab es nur bröckelndes Mauerwerk, aus dem das Wasser tropfte, einen Boden, der sich in einem Aggregatzustand zwischen fest und flüssig befand, und
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