Young Sherlock Holmes 4
frische, auf Gras ausgelegte Forellen feilgeboten wurden. »Die war vor ein paar Minuten da drüben. Hat gesagt, dass die Fische zu klein sind.«
»Hast du gesehen, in welche Richtung sie gegangen ist?«
Er zuckte die Achseln. »Solange sie sich von mir entfernt, interessiert’s mich nicht großartig. Warum? Was ist los?«
Sherlock überlegte, ob er Matty von der Auseinandersetzung zwischen Mrs Eglantine und seinem Onkel erzählen sollte. Aber er beschloss, den Mund zu halten. Schließlich war es eine Familienangelegenheit – zumindest fürs Erste. »Ich muss einfach nur wissen, wo sie ist«, sagte er. »Ich glaube, sie führt etwas im Schilde.«
»Sollte nicht allzu schwierig sein, sie zu finden«, antwortete Matty. »Sie zieht sich an, als wär jeden Tag Sonntag.«
Während sich die beiden Jungen über den Markt bewegten und sich an diversen Verkäufern, Kunden und neugierigen Müßiggängern vorbeischoben, die den Platz bevölkerten, drangen von allen Seiten Gesprächsfetzen an Sherlocks Ohr.
»… und dann hab ich ihm gesagt, wenn er ohne das Ding wiederkommt, hau ich ab …«
»… du hast mir dein Wort gegeben, dass das Geschäft geritzt ist, Bill …«
»… wenn ich dich noch mal mit dem Kerl sehe, Mädchen, verdresch ich dich so, dass dir eine Woche lang der Schädel brummt …«
Insbesondere eine Stimme erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie wies einen Akzent auf, einen amerikanischen. Dieser war Sherlock von seinen Gesprächen mit Amyus Crowe und von seinem Aufenthalt in New York wohlvertraut. Er wandte den Kopf, in der Annahme, es handele sich bei dem Sprecher womöglich um seinen Lehrer. Aber das Gesicht, auf das sein Blick unversehens fiel, war jünger: äußerst markant und scharf konturiert. Die Haare hatte der Mann zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden, und wie Sherlock unter der Frisur zu erkennen meinte, fehlte ihm das rechte Ohr. Denn dort war nichts zu sehen als eine Masse dunklen Narbengewebes. Seine staubige Kleidung war abgetragen. Sein Begleiter, mit dem er sich unterhielt, hatte kurzes blondes Haar und ein Gesicht, das von kreisrunden Narben übersät war, wie sie typisch für eine überstandene, schwere Pockenerkrankung waren.
»… wird uns bei lebendigem Leib die Haut abziehen und daraus Hüte machen«, hörte er den Mann mit dem fehlenden Ohr sagen. »Wir müssen unbedingt Crowe und seine Tochter finden. Das ist unsere einzige Chance!«
»Tja, wir beide wissen, was uns blüht, wenn wir’s nicht tun, was, Abner?«
»Jo.« Das Gesicht des dunkelhaarigen Mannes verzog sich angesichts einer offensichtlich überaus unangenehmen Vorstellung. »Tut jetzt nichts anderes mehr als an die Wand zu starren, nachdem der Boss mit ihm fertig war. Es ist, als wär’ sein Gehirn nur noch Soße. Abgesehen von dem Teil, den er zum Atmen und Essen braucht …«
Da sie sich in entgegengesetzte Richtungen entfernten, war das alles, was Sherlock mitbekam, bevor die beiden Männer außer Hörweite waren. Trotzdem klang die Sache ernst. Sherlock beschloss, sobald wie möglich Mr Crowe aufzusuchen. Sein Lehrer musste unbedingt wissen, dass jemand nach ihm suchte.
Kaum hatte dieser Gedanke in seinem Kopf Gestalt angenommen, da hatten Matty und er auch schon die andere Seite des Marktplatzes erreicht.
»Warte kurz hier«, sagte Matty und flitzte auf das zweistöckige Kolonnadengebäude am Rande des Marktplatzes zu. Sherlock verlor ihn aus den Augen, als er in den Schatten der Kolonnaden eintauchte. Er wollte sich gerade abwenden und die Menge nach einer schwarz gekleideten Frau absuchen, als Mattys Kopf plötzlich über der Brüstung auftauchte, die das Dach des Gebäudes säumte. Er winkte Sherlock zu, und Sherlock winkte zurück, erstaunt, wie schnell Matty durch das Gebäude nach oben gesaust war. Mit seinen scharfen Augen musterte der Kanalboot-Junge die Menge. Innerhalb weniger Augenblicke zeigte er auf etwas.
Mrs Eglantine?
, formte Sherlock stumm die Worte mit dem Mund, im Vertrauen auf Mattys Fähigkeiten, von den Lippen zu lesen.
Schweinefleischpastete!
, kam Mattys Antwort. Sherlock konnte nicht sagen, ob er dabei die Worte laut aussprach oder nicht. Aber die Lippenbewegung war deutlich genug. Matty grinste.
Kleiner Scherz!
, formte er mit den Lippen.
Sie ist da drüben!
Sherlock streckte ihm den erhobenen Daumen entgegen, und Mattys Kopf verschwand wieder hinter der Brüstung.
Sherlock stürzte sich ins Gewimmel der Marktbesucher und Händler und steuerte in die
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