Young Sherlock Holmes 4
Richtung, in die Matty gewiesen hatte. Er musterte die Köpfe der Leute vor sich und hielt nach Mrs Eglantines unverwechselbarer Hochsteckfrisur Ausschau. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er buchstäblich jede Haar-, Frisur- und Kopfschmuckvariante registriert, die denkbar war: schwarze, rote, blonde, graue, weiße und auch keine Haare; glatte Haare, lockige, zu einem Pferdeschwanz frisierte und Stoppelhaare; Hut-, Kopftuch-, Schirmmützen- oder Bowlerträger und Barhäuptige … alles Mögliche – nur nicht eine Frau, die ihre schwarzen Haare so straff zurückgesteckt hatte, dass es aussah, als wären sie ihr auf den blanken Skalp gemalt worden. Endlich entdeckte er sie. Sie stand am Rande des Marktplatzes und hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie war in ein Gespräch mit einem kleinen Mann vertieft, dessen lange geölten Haare entlang eines schmalen, kahlen Mittelscheitels nach hinten gekämmt waren. Er hatte eine fleckige Haut, und seine Jacke war an Schultern, Ellbogen und Ärmelaufschlägen vor Dreck und Fett ganz speckig. Er gehörte nicht gerade zu der Art von Männern, mit denen sich Mrs Eglantine Sherlocks Erwartung nach normalerweise abgeben würde.
Sherlock ließ sich in der Menge näher an sie herantreiben und wandte bewusst den Blick von den beiden ab, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Als er näher kam, hörte er den Mann sagen: »Die Zeit läuft und läuft, Schätzchen, und immer noch keine Spur von dem Zeug. Bist du sicher, dass es im Haus ist?«
»Es kann nirgendwo sonst sein«, antwortete Mrs Eglantine mit ihrer kalten und resoluten Stimme. »Und du musst mich nicht daran erinnern, wie lange ich nun schon an diesem
Ort
arbeite.«
»Gibt’s irgendwas, was ich tun kann, um die Dinge voranzutreiben?«, fragte der Mann.
»Du kannst mir dieses Gör Sherlock vom Hals schaffen«, blaffte sie. »Ständig schnüffelt er herum, und er ist cleverer, als gut für ihn ist.«
»Du möchtest also, dass er vorübergehend verschwindet? Oder … sogar gewissermaßen
endgültig
?«
»So endgültig«, zischte sie, »dass ich wünschte, man würde ihn in Stücke hacken und seine Einzelteile so verstreuen, dass niemand jemals auch nur ein Fitzelchen von ihm wiederfindet.«
3
Sherlock spürte, wie ihm vor Entsetzen der Mund aufklappte. Er wusste, dass Mrs Eglantine ihn nicht mochte, ja sogar hasste. Aber die Tatsache, dass sie ihn so sehr hasste, dass sie seinen Tod wollte – dass sie soeben tatsächlich jemanden gebeten hatte, ihn umzubringen –, das war ein Schock. Was hatte er ihr nur getan? Jedenfalls abgesehen davon, ihre Position in Frage zu stellen und ihre Autorität offen herauszufordern?
Der Mann mit dem öligen Haar sagte erneut etwas, und Sherlock konzentrierte sich wieder, um mitzubekommen, worum es sich handelte.
»Ich werde das in Erwägung ziehen«, sagte der Mann. »Verlass dich drauf. Aber das Problem ist doch, dass ich mit dem, was ich über diese etepetete Holmes-Familie weiß, eine nette kleine Rendite einstreichen könnte. Doch stattdessen halte ich mich zurück. Anstatt sie zu bewegen, mir eine Guinea in der Woche dafür zu zahlen, dass ich ihr Geheimnis wahre, benutze ich meinen Einfluss dafür, dass sie dich als Hauswirtschafterin behalten.« Er kicherte. »Lass uns den Tatsachen ins Auge sehen: Wer würde schon eine sauertöpfische Xanthippe wie dich anstellen, wenn er nicht müsste? Ich verliere einen Haufen Kohle bei dem Deal, während du da einen nett bezahlten kleinen Job hast.«
Mrs Eglantine machte Anstalten etwas zu erwidern, aber der Mann hob eine Hand, und sie hielt inne.
»Ich weiß, was du sagen willst«, fuhr er fort. »Du wirst mir erzählen, dass du, wenn du deinen Schatz findest, der da im Haus versteckt ist, mit mir teilen wirst und wir beide reich sein werden. Das Problem daran ist nur, dass dieser Schatz etwas ist, was man als hypothetische Sache bezeichnen könnte. Ich hab’s nicht gesehen, und überzeugt davon, dass es ihn gibt, bin ich auch nicht. Demgegenüber wäre das Geld, das ich von der Holmes-Familie für mein Schweigen kassieren könnte, eine reale Sache. Bar auf die Kralle, wenn du so willst – oder Bier in meinem Bauch. Also hab ich mich doch gefragt, ob ich mit einem kleinen, aber echten Sümmchen nicht besser dran wär’ als mit einem großen, aber leider hypothetischen Batzen.«
Mrs Eglantine gab ein missbilligendes Schnauben von sich. »Wir hatten eine Vereinbarung, Josh Harkness«, sagte sie. »Wenn du jetzt einen
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