Young Sherlock Holmes 4
»Vielleicht hast du sie ja für bessere Freunde gehalten, als sie tatsächlich sind«, sagte er gefühllos. »Meiner Erfahrung nach geht so Zeug wie Freundschaft rasch über Bord, wenn die Zeiten schwierig werden und das Geld knapp.«
Sherlock starte ihn nur an. »Meinst du das ernst?«
Matty vermied es, seinen Blick zu erwidern. »Ist ’ne harte Welt, Sherlock. Du hast es immer leicht gehabt. Warte, bis du frierst, hungerst und kein Geld mehr hast – dann sieh mal, was Freundschaft noch wert ist.«
»
Du
bist mein Freund.« Sherlock hatte das Gefühl, als würde ihm die Welt, auf die er sich verließ, plötzlich entgleiten. »Ich werde das nie vergessen. Ich meine es so – und ich lüge nicht!«
»Ich weiß, dass du es so meinst. Aber du hast einen vollen Bauch und Geld in der Tasche. Sag mir das noch mal, wenn du alles verloren hast.« Er schüttelte seinen Kopf. »Hör mal, ich such ja nach der Nachricht. Niemand wird glücklicher sein als ich, wenn ich was finde.«
Während Matty sich daranmachte, in Schubladen und hinter Möbelpolstern herumzustöbern, stieg Sherlock die schmale Holztreppe hinauf, wobei er sich fast den Kopf an der niedrigen Decke stieß. Ihm war ziemlich elend zumute, teils wegen des Verschwindens seiner Freunde, teils aber auch wegen Mattys Worten. War Freundschaft wirklich eine so beliebige Sache? Und dachte Matty, dass Sherlock ihn einfach so fallenließe, wenn die Dinge einmal schwierig werden würden?
Und:
Würde
er das wirklich?
Er spürte, wie ihn ein Schauder durchfuhr, und er verbannte die Gedanken in den hintersten Winkel seines Geistes. Im Moment gab es wirklich wichtigere Dinge, um die er sich Sorgen machen musste.
In den oberen Räumen herrschte dieselbe Leere wie unten. Amyus Crowes Bett war sorgfältig gemacht, und sämtliche Kleidungsstücke in seinem Wandschrank waren fort. Im Badezimmer fand sich nicht einmal ein Kamm oder eine Zahnbürste.
Sherlock stand in der Tür zu Virginias Zimmer und verlagerte nervös das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er hatte noch nie zuvor ihr Zimmer gesehen, und obwohl sie ganz offensichtlich nicht da war, hatte er das Gefühl, als sollte er besser nicht hineingehen. Als wäre es irgendwie verbotenes Terrain.
Nein, das war dämlich, ermahnte er sich. Es war einfach nur ein Zimmer.
Er betrat den Raum. Ebenso wie im Zimmer ihres Vaters war das Bett sorgfältig gemacht und der Wandschrank ausgeräumt. Weder auf der Fensterbank noch auf der Kommode waren irgendwelche persönlichen Gegenstände zu entdecken.
Er meinte, eine Spur ihres Parfüms in der Luft wahrzunehmen. Seltsam – er hatte nicht einmal gewusst, dass sie Parfüm trug, ja hätte nicht einmal gedacht, dass sie zu der Sorte Mädchen gehörte, die das taten. Doch wenn er die Augen schloss, konnte er sich regelrecht vorstellen, wie sie direkt hinter ihm stand.
Er war schon im Begriff zu gehen, als er aus dem Augenwinkel einen bunten Schimmer auf ihrem Kopfkissen wahrnahm. Er drehte sich wieder um und beugte sich über das Bett.
Dort auf dem Kissen lag eine einzelne Strähne ihres kupferroten Haares. Irgendetwas griff nach seinem Herzen und presste es zusammen, hart, unbarmherzig, und auf einmal hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Was gefunden?«, ertönte Mattys Stimme von unten.
»Nichts«, rief Sherlock zurück und spürte, wie sich der Griff um sein Herz etwas löste. Seine Stimme hörte sich seltsam schrill in seinen Ohren an. »Und du?«
»Nichts. Keine Lebensmittel in den Küchenregalen oder der Speisekammer. Alles ist abgewaschen. Was bedeutet, dass sie alles Essbare mitgenommen haben. Meiner Erfahrung nach ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nicht zurückkommen werden.«
Sherlock stieg die Treppe hinab und duckte dabei den Kopf, um nicht gegen die Decke zu stoßen.
Als er wieder in den unteren Raum gelangte, blieb sein Blick auf den winzigen Löchern haften, die sich im Putz auf der gegenüberliegenden Wand abzeichneten. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass dort so viele Sachen gehangen hatten.
»Keine Spur von ihnen«, sagte Matty. »Die sind ein für alle Mal weg. Tja, wenn sie meinen.«
Sherlock schüttelte heftig den Kopf. »Amyus Crowe würde nicht einfach so mir nichts, dir nichts verschwinden, ohne ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen. Selbst wenn etwas Schlimmes passieren würde und er sofort aufbrechen müsste, hätte er eine Nachricht dagelassen. Und Virginia …«
Er hielt inne, unfähig, den Satz zu Ende zu bringen. Er
Weitere Kostenlose Bücher