Young Sherlock Holmes 4
erinnere mich noch daran, wie stolz er war, als er in die Armee aufgenommen wurde. Es wäre schlichtweg falsch gewesen, ihm das alles zu nehmen.«
»Aber durch die Anwesenheit von Mrs Eglantine ist euer Leben schlimm in Mitleidenschaft gezogen worden.«
»Uns alle führt der gütige Herrgott in gewissen Phasen des Lebens durch das Feuer«, sagte Sherrinford. »Er stellt uns auf die Probe, und wir dürfen nicht für zu leicht befunden werden.«
»Was hätten wir auch tun sollen?«, fragte Tante Anna, von einem eher pragmatischeren Ansatz ausgehend. »Hätten wir diesem abscheulichen Mr Harkness sagen sollen, dass wir nicht zahlen werden, und dann zusehen, wie ein Verwandter in der Öffentlichkeit gedemütigt wird?«
Sherlock blickte von seiner Tante zu seinem Onkel. Unwillkürlich wurde ihm klar, dass er sie nun mit ganz anderen Augen sah. Auf einmal waren sie keine verstaubten alten Relikte eines bigotten Zeitalters mehr für ihn. Es waren Menschen mit Gefühlen und Sorgen. Er versuchte sich vorzustellen, wie Sherrinford und sein Vater als Jungen zusammen gespielt hatten. Er versuchte sich vorzustellen, wie seine Tante als jüngere Frau in ihrem schönsten Kleid vielleicht an der Hochzeit seines Vaters und seiner Mutter teilgenommen hatte. Und einen Moment lang glaubte er, alles vor sich zu sehen.
»Danke«, sagte er einfach nur. »Im Namen meiner Mutter und meines Vaters, die dies beide aus verschiedenen Gründen nicht selbst sagen können, danke.«
»Das war das Mindeste, was wir tun konnten«, sagte Sherrinford.
»Das war es nicht«, erwiderte Sherlock. »Deswegen ist es ja auch eine so noble und aufopferungsvolle Geste.«
»Und jetzt«, unterbrach Tante Anna, »muss ich mich aber sputen und sehen, dass wir eine neue Hauswirtschafterin bekommen. Der Haushalt hier macht sich nicht von alleine, und die Dienstmädchen sind manchmal so flatterhaft, dass sie jemand brauchen, der ihnen über die Schulter schaut. Wer weiß, was sonst so alles passiert.«
»Und auf mich wartet noch eine Bibliothek, die aufgeräumt werden muss«, verkündete Onkel Sherrinford. »Das könnte einige Zeit dauern.«
Sie erhoben sich beide. Mit einem letzten Lächeln von Sherlocks Tante und einem geistesabwesenden Winken seines Onkels verließen sie den Raum.
»Nette Leute«, meinte Matty.
»Nett ist die Untertreibung des Jahrhunderts«, antwortete Sherlock nachdenklich.
»Also, was hast du als Nächstes vor?«
Sherlock überlegte kurz. »Ich habe daran gedacht, rüber zu Amyus Crowes Cottage zu gehen. Ich denke, er sollte hören, was passiert ist. Wir sollten ihn vermutlich auch über diese Amerikaner informieren, die vorhin auf dem Markt nach ihm gesucht haben. Sie haben seinen Namen erwähnt.«
Matty zuckte die Achseln. »Gut möglich, dass er einen Tipp hat, was zu machen ist, wenn Josh Harkness beschließt, dir wegen seinem verlorenen Geld das Fell abzuziehen«, sagte er. »Und ich denke, es wäre nett, Virginia einmal wiederzusehen.«
Sherlock starrte ihn an, aber Matty blickte einfach mit unschuldigem Gesichtsausdruck zurück.
»Du musst nicht mitkommen«, sagte Sherlock gelassen. »Ich dachte, dass Albert vielleicht Futter braucht.«
»Er ist ein Pferd«, sagte Matty und zuckte die Achseln. »Da, wo ich ihn zurückgelassen habe, ist er von lauter Futter umgeben. Das ist so, als würde man mich in einem Kuchenladen zurücklassen. Er wird sich den Bauch mit Gras vollschlagen, bis er satt ist, und dann ein Nickerchen machen.«
»Glaubst du eigentlich, dass Pferde sich langweilen können?«, fragte Sherlock. »Ich meine, wenn sie so die ganze Zeit auf dem Feld herumstehen.«
Matty hob eine Augenbraue. »Da hab’ ich nie richtig drüber nachgedacht. Ich glaube nicht, dass sie was dagegen haben. Vielleicht verbringen sie ihre Zeit mit tiefschürfenden Gedanken über die Welt und die Dinge, die es auf ihr gibt. Oder vielleicht können sie auch nicht sehr viel weiter als bis zu ihrer Nasenspitze denken.« Er musterte Sherlock mit schrägem Blick. »Du denkst zu viel. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Sie traten in den spätnachmittäglichen Sonnenschein hinaus. Sherlock gelang es, sich noch ein weiteres Pferd in den Ställen zu leihen, und zusammen ritten sie über die Felder zum Cottage, in dem Crowe und seine Tochter lebten.
Während sie so dahinritten, ertappte Sherlock sich dabei, wie seine Gedanken zwischen zwei Extremen hin und her schwankten: zwischen Nervosität bei der Vorstellung, Virginia gleich
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