Zähl nicht die Stunden
im Wald versteckt, bis es zu regnen aufhörte und dunkel wurde.
Als ich zurückkam, haben alle schon geschlafen. Ich ging in Lukes
Zimmer, um mich zu entschuldigen, um ihm zu sagen, dass die Person,
auf die ich wirklich wütend war, für die ich mich ehrlich schämte und die ich in Wahrheit widerlich fand, nicht er war, sondern ich. Weil ich sie nicht selbst getötet hatte.
Aber er war nicht da.
Ich blieb die ganze Nacht wach und wartete auf ihn, doch er kam
nicht zurück.« Jake hielt die Luft an und stieß sie in einem schmerzhaften Stöhnen wieder aus. »Am nächsten Morgen haben wir erfahren, dass er
in die Stadt getrampt ist, sich gründlich betrunken , ein Boot gestohlen und in einen Pier gerast ist. Er war sofort tot. Wir haben nie erfahren , ob es ein Unfall war oder nicht.«
»Mein Gott , Jake , es tut mir so Leid.«
»Netter Typ , den du da geheiratet hast , was?«
»Du warst damals sechzehn Jahre alt , Jake.«
»Alt genug , um es besser zu wissen.«
»Du konntest es nicht wissen.«
»Er ist tot« , erklärte Jake schlicht. »Das weiß ich.«
Mattie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Und Nicholas?«
Jake stellte sich den leicht verwahrlosten Jugendlichen mit den
traurigen Augen vor , den er seit mehr als fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. »Nicks Art , mit all dem umzugehen, bestand aus Alkohol , Drogen und die Schule schmeißen. Er ist ein paar Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hat ein paar Nächte im Knast verbracht und ist vor etwa zehn Jahren weggezogen und vom Erdboden verschwunden. Ich
habe keine Ahnung , wo er jetzt ist.«
»Hast du versucht, es herauszufinden?«
Jake schüttelte den Kopf. »Wozu?«
»Für deinen Seelenfrieden« , antwortete sie schlicht.
»Du glaubst , ich verdiene Seelenfrieden?«
»Ja , das glaube ich«, sagte sie.
Jake spürte frische Tränen in den Augenwinkeln. War Mattie schon
immer so verdammt verständnisvoll gewesen?, fragte er sich und sah sich nach dem Kellner um. Hatte er nicht gesagt, dass das Essen jeden
Moment kommen würde? Was zum Teufel war los? Wie schwierig
konnte es sein, zwei Portionen Pasta zuzubereiten?
»Kurz nach Lukes Tod ist mein Vater bei seiner Freundin
eingezogen«, fuhr Jake unaufgefordert fort. »Ein paar Jahre später ist er an Krebs gestorben. Meine Mutter behauptet , sie hätte ihn mit einem Fluch belegt, was ich keinen Moment lang bezweifle , aber es muss sie umgekehrt auch mit einem Fluch belegt haben , denn sie starb im ersten Jahr meines Jurastudiums an demselben Krebs.« Jake hielt inne und lachte laut. Besser als weinen, dachte er. »Jetzt kennst du sie«, sagte er m seinem besten Anwaltston, »die ganze schmutzige Geschichte.«
»Und du hast diese Schuld all die Jahre mit dir herum geschleppt.«
»Eine Schuld, die ich verdient habe, meinst du nicht?«
Mattie schüttelte den Kopf. »Ich finde, mit Schuldgefühlen
verschwendet man bloß kostbare Zeit.«
Jake verspürte einen Anflug von Ärger, obwohl er nicht wusste,
warum. »Und was schlägst du stattdessen vor?«
»Lass los«, sagte Mattie.
»Einfach so?«
»Es sei denn, es bereitet dir Vergnügen, dich selbst zu quälen?«
Jake spürte, wie der Ärger in das Zentrum seines Gehirns vordrang,
den angenehmen Glimmer zerriss und die Fetzen in alle Richtungen
schleuderte. »Glaubst du, es macht mir Spaß, mich schuldig zu fühlen?«
Mattie senkte den Blick und zögerte. »Ist es möglich, dass deine
Schuldgefühle deine Art sind, an Luke festzuhalten?«
»Das ist doch ein Haufen Blödsinn«, fauchte Jake zurück und
überraschte nicht nur Mattie , sondern auch sich selbst mit seiner unvermittelten Heftigkeit. Was redete Mattie da? Mit was für einem
primitiven New-Age-Unsinn kam sie ihm da? Wie konnte sie es wagen!
Auch wenn sie starb , was gab ihr das Recht? Für wen hielt sie sich, verdammt noch mal, für die beschissenen Joyce Brothers? Sie konnte ihn mal. Was glaubte sie, wer sie war?
»Es tut mir Leid«, entschuldigte Mattie sich hastig. »Ich wollte dich nicht aufregen. Ich wollte bloß he-hel- haln.« Jake beobachtete , wie Matties Mund sich um diese eigenartige Lautfolge verzerrte. Sofort war sein Ärger vergessen. »Mattie, was ist los?«
»A-11-besn-«
Jake sah die wachsende Panik in den Augen seiner Frau. Was zum
Teufel war los ? Er hätte sie nicht so anraunzen dürfen. Verdammt. Das Ganze war seine Schuld. »Möchtest du einen Schluck Wasser?«
Mattie nickte und wollte das Glas, das Jake ihr
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