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Zaehme mich

Zaehme mich

Titel: Zaehme mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Maguire
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schloss sich um ihre, und dann war es vorbei.
    Freud glaubte, dass die Sublimierung der Begierden für die Zivilisation verantwortlich war. Die niedersten, animalischen Triebe wurden unterdrückt, und die Energie, die andernfalls mit hedonistischen Handlungen vergeudet worden wäre, wurde umgelenkt und nutzbar gemacht. Mit anderen Worten, so erklärte Daniel Sarah, statt Sex zu haben, errichteten die Menschen Kathedralen, Städte und Staaten.
    »Die Welt hat schon genug von diesen Dingen, findest du nicht?«
    »Mehr als genug.«

5
    Das Letzte, womit Jamie an diesem Freitagnachmittag um Viertel nach fünf rechnete, war, dass Sarah Clark durch seine Bürotür hereinspaziert kam. Wenn Sarah Clark in letzter Zeit überhaupt durch seine Tür spazierte, dann höchstens in seinen Träumen, und auch da war es nie die Bürotür.
    Sie war viel dünner als in seinen Träumen, und sie trug auch mehr Kleider. Sie sah völlig verändert aus. Älter, kleiner, müder. Niedergeschlagen. Doch bestimmt hatte er ihr Aussehen nur falsch interpretiert oder etwas in sie hineinprojiziert, denn Sarah Clark war noch nie in ihrem Leben niedergeschlagen gewesen.
    Niedergeschlagen, alt, müde, egal. Und wenn ihr statt Haaren Schlangen aus dem Kopf gewachsen wären, und wenn ihr das Blut aus den Augen geflossen wäre – sie war trotzdem das Schönste, was er seit über einem Jahr gesehen hatte. Er starrte in sein Auftragsbuch und konzentrierte sich auf seine Atmung.
    »In der Rezeption war niemand, da bin ich einfach gleich reingekommen.« Sie stand in der Tür und hörte sich irgendwie nervös an, aber das konnte nicht sein. »Macht es dir was aus, dass ich da bin?« Sie klang verschüchtert, aber auch das war unmöglich. Sarah Clark war nie nervös oder verschüchtert. Wahrscheinlich wieder seine Projektionen. Er hatte eine Scheißangst.
    Dreizehn Monate und zwölf Tage. Der Mistkerl musste mit ihr Schluss gemacht haben. Wahrscheinlich hatte er sie auf die Straße gesetzt, und jetzt hatte sie niemand sonst, an den sie sich wenden konnte. Er wusste, dass sie ihre Arbeit aufgegeben hatte, weil er ins Restaurant gefahren war, um sie zu sehen. Auch in der Universität hatte er vergeblich nach ihr Ausschau gehalten. Das war jetzt über ein Jahr her.
    »Du bist wohl nicht besonders froh, dass ich hier bin?«
    Sarah brach in Tränen aus.
    Jamies Lähmung war auf einmal wie weggeblasen. Die leidende Sarah löste bei ihm den Reflex einer Mutter aus, die instinktiv ihr Kind schützen will. Er wusste, dass er selbst schwach und klapprig war, das jämmerliche Zerrbild eines Vaters, ein entsetzlicher Ehemann und als Mann sowieso ein totaler Versager, doch er würde sich bis zum letzten Atemzug nicht davon abbringen lassen, auf Sarah aufzupassen.
    Er schloss sie in die Arme und zuckte innerlich zusammen, als seine Fingerspitzen über ihre vorstehende Wirbelsäule streiften und seine Rippen schmerzhaft gegen ihre stießen. Sie fühlte sich anders an als früher, und das lag nicht daran, dass ihn sein Gedächtnis im Stich ließ. Wie Sarah Clark sich anfühlte, würde Jamie erst am Ende aller Zeiten vergessen. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie sich anfühlte: knochig und glatt und warm. Und sie war immer zu leicht, als könnte sie von einer schweren Hand zermalmt werden.
    So hatte sie seit jeher gewirkt, und auch jetzt wirkte sie so, nur noch verstärkt: knochiger, glatter, wärmer, leichter. Aber das war es nicht, was ihn so seltsam berührte. Es war etwas anderes, etwas, das nichts zu tun hatte mit ihren zarten Knochen und der unglaublich blassen, immer heißen Haut.
    Er versuchte sich von ihr zu lösen, um ihr ins Gesicht blicken zu können, doch sie klammerte sich an ihn, zitternd wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war, bevor seine Flügel es tragen konnten. Sie war verletzt und verängstigt, und das war es, was sich für Jamie so unvertraut anfühlte, Jamie hatte immer gewusst, wie zerbrechlich sie war, doch jetzt, da sie in seinen Armen bebte und sein Hemd mit Tränen und Rotz tränkte, jetzt war sie gebrochen.
    »Komm, setz dich.« Er wollte ihre Arme abstreifen, aber sie ließ nicht los, und so musste er halb stolpernd mit ihr am Hals zurücktreten und sie auf einen Stuhl bugsieren. Noch immer hielt sie sich an seinen Armen fest. »Hör doch auf zu weinen. Ist ja gut. Na, komm schon.« Er befreite seine eine Hand und strich ihr eine Haarsträhne weg, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte und an ihrer Wange

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