Zaehme mich
sie versucht, ihn zu erreichen, und alle hatten es gewusst und sie mit vereinten Kräften von ihm fern gehalten. Beherrsche den Zorn, lass dich nicht von ihm beherrschen. Dreizehn Monate und zwölf Tage seines Lebens waren in Schmerz und Elend vergeudet worden.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass sie das Zimmer durchquerte und auf seinen Schreibtisch kletterte. Er war sich nicht sicher, ob sie in den Schneidersitz gegangen war, weil er so damit beschäftigt war, die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit über den Verrat seiner Umgebung zu einer Scheibe zusammenzupressen. Er kontrollierte seine Gefühle, und nicht sie ihn.
»Betest du? Hast du irgendwie zu Gott gefunden, oder so?«
»Du hast mit meiner Mum geredet? Und mit Brett?«
»Ja, und mit deinem Dad auch. Was soll dieses verrückte Getue mit den Händen?«
»Eine Sache aus der Verhaltenstherapie. Ich muss die schlechten Gefühle mit den Händen zusammenquetschen, und dann kann ich sie loslassen.«
»Was für ein Schwachsinn. Gib mir deine Hände.« Es war tatsächlich Schwachsinn. Er entspannte die Hände und überließ sie Sarah. Das wirkte viel besser als all die Techniken, die sie ihm beigebracht hatten. Wenn Sarah ihre Fingerspitzen in seine Handflächen drückte, vergingen die Panik und der Zorn von ganz allein. Was spielte es da für eine Rolle, dass er unnötig gelitten hatte, weil ihn seine Verwandten und Freunde aus egoistischen Motiven hintergangen hatten? Was spielte es für eine Rolle, dass er über ein Jahr seines Lebens ohne Sarah verbracht hatte, wenn sie ihn doch die ganze Zeit gewollt und gebraucht und nach ihm gerufen hatte? Es spielte nicht mehr die geringste Rolle, denn jetzt war sie hier, und das war das Einzige, was zählte, was je gezählt hatte.
»Es ist so schön, dich wiederzusehen«, sagte Jamie.
»Obwohl außer Haut und Knochen nicht viel von dir zu sehen ist. Und wie behandelt dich dieser alte Mann?«
Sie lächelte. »Wie eine Königin.«
»Super, das freut mich.« Jamie blieben die Worte nur deshalb nicht im Hals stecken, weil er sich einfach vorstellte, dass er sich in einem seiner Alpträume befand: Nicht mehr lange, dann würde ihr Schädel zerplatzen und heißes Blut über seinen Schreibtisch, seinen Stuhl und seinen Körper spritzen.
Sarahs Schädel zerplatzte nicht. »Egal, was du von Daniel hältst, du musst wissen, dass er mich wirklich liebt.
Kein anderer könnte mich stärker lieben. Nicht einmal du, Jamie.«
Einen Moment lang empfand Jamie echtes Mitleid mit Daniel Carr, dem noch großer seelischer Kummer bevorstand, wenn er Sarah so sehr liebte wie Jamie. Dann blickte er zu ihren blauen Lippen auf, und jede Sympathie für den Scheißkerl verschwand. Sie sah aus wie eine zwölfjährige Fixerin.
»Wenn er dich so gut behandelt, warum schaust du dann aus wie der Tod? Warum kommst du hier weinend und zitternd an?«
Sie kletterte vom Schreibtisch und ging zum Fenster, um sich die nächste Zigarette anzuzünden. Mehrere Minuten starrte sie hinaus in die hereinbrechende Abenddämmerung, und Jamie beobachtete sie. Sie schien mit sich zu ringen. Zweimal wandte sie sich Jamie halb zu, den Mund schon geöffnet, und beide Male presste sie die Lippen zusammen und sah wieder zum Fenster hinaus.
Jamie wartete, weil ihm nichts anderes einfiel. Mit Nachfragen war man bei Sarah nie sehr weit gekommen.
Es führte höchstens dazu, dass sie sich bedrängt fühlte und sich auf sarkastische oder witzige Bemerkungen verlegte.
Und dann würde er nie erfahren, was mit ihr los war.
Je länger er wartete und sie betrachtete, desto größer wurde sein Entsetzen. Sie war aschfahl, spindeldürr, ausgelaugt. Nicht einmal nach der Vergewaltigung hatte sie so schlecht ausgesehen. Es musste also etwas wirklich Schreckliches sein. Kein Wunder, dass es ihr so schwer fiel, ihm davon zu erzählen. Vielleicht nahm sie wieder diese Pillen oder noch etwas Schlimmeres. Wer konnte sagen, was ein perverser Arsch wie Daniel Carr mit ihr machte? Vielleicht war er Heroindealer, oder vielleicht verkaufte er sie an seine übersättigten intellektuellen Freunde. Vielleicht war sie krank. Sie sah auf jeden Fall krank aus. Jamies Herzschlag wurde schneller, und er presste wieder die Hände zusammen.
Im Fernsehen in der Sendung 60 Minutes hatte er schon Leute gesehen, die aussahen wie KZ-Opfer und die davon erzählten, dass so etwas jedem passieren konnte. Und sie war nicht einfach irgendjemand – sie war Sarah Clark. Da konnte man schon von einem
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