Zaehme mich
im Aufzug zufällig den falschen Knopf erwischte. Die ganze Nacht kauerte sie nackt und verängstigt an der Tür.
Als Daniel am Morgen aufmachte, konnte sie vor Erschöpfung weder stehen noch reden. »Oh Sarah«, sagte er und nahm sie in die Arme. Dann trug er sie zum Bett und bat sie weinend, den Kopf in ihren Bauch gedrückt, um Verzeihung.
»Gestern«, erklärte er, »haben sie mich vor die Schulbehörde geschleift und mir eine Abmahnung erteilt.
Ungehöriges Benehmen und ungenügende Leistung, hat es geheißen. Ich habe nach dem genauen Grund der Beanstandung gefragt.«
Er schluchzte. »Unaufmerksamkeit. Verspätungen.
Ungepflegtes Äußeres, insbesondere …« Wieder schluchzte er. »Blutergüsse und Kratzer im Gesicht, die zu der Vermutung Anlass geben, dass ich häufig in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt bin.«
»Das tut mir Leid.«
»Wir müssen aufhören mit dem, was wir gemacht haben.
Du musst dich beruhigen.«
»Ich werde es versuchen.« Aber schon jetzt fiel es ihr schwer. Sein Kopf auf ihrem Bauch, seine Tränen, seine Berührung nach dieser langen, kalten, schrecklichen Nacht
– das alles war so überwältigend, dass sie ihm am liebsten die Brust aufgerissen hätte.
»Früher war ich nie so. Ich war fünfundzwanzig Jahre verheiratet und habe mir nie eine Gesichtsverletzung zugezogen. Und ich bin bestimmt nie zu spät in die Arbeit gekommen, weil ich einfach nicht damit aufhören konnte, meiner Frau den Arsch zu lecken.«
»Dann bin also ich an allem schuld?«
Er setzte sich auf und nahm ihr Gesicht in die Hände.
»Nicht du, wir. Wir sind außer Rand und Band. Mein Gott, deswegen bin ich doch damals abgehauen.«
»Kann schon sein, aber diesmal haust du mir nicht ab.
Kommt nicht in Frage. Wir lassen es ruhiger angehen, Daniel. Versprochen. Ich werde dich nicht mehr beißen und kratzen, und ich werde dafür sorgen, dass du dich immer schön früh ins Bett legst, damit du dich am nächsten Tag konzentrieren kannst. Und am Morgen werde ich meinen Arsch von deiner Zunge fern halten, damit du nicht mehr zu spät kommst.«
»Ich danke dir.« Er küsste sie auf den Mund und ließ seine Hände über ihre Wirbelsäule gleiten. »Wie lang noch, bis ich wieder in der Arbeit sein muss?«
»Ungefähr noch fünfundvierzig Stunden.«
Innerhalb von wenigen Sekunden war Daniel in ihr.
Am Montagmorgen beobachtete Sarah, wie er sich bemühte, den violetten Bluterguss auf seiner Wange und die blutigen Schrammen auf seinem Hals mit ihrer Grundierung zu überschminken. »So kann es nicht weitergehen«, sagte er zu seinem Spiegelbild. Er fuhr in die Arbeit, ohne sich zu verabschieden.
Daniel wollte sich nicht mehr von ihr berühren lassen. Bei dem geringsten Anzeichen eines Annäherungsversuches knurrte er und hob abwehrend die Hände. Er sagte fast nichts und wenn, dann nur Dinge wie Halt den Mund oder Fass mich nicht an. Doch sie probierte es immer wieder, denn was blieb ihr auch anderes übrig?
Die alten Griechen glaubten, dass zur Zeit der Schöpfung jeder Mensch aus zwei Wesen bestanden hatte, die in ihrem Körper, Geist und Herzen miteinander vereint waren. Erzürnt darüber, dass diese Geschöpfe vollkommen in sich ruhten und sich darum nicht mit der Verehrung der Götter abgaben, riss Zeus sie auseinander und trennte dabei jedes Ganze in zwei Hälften. Seither durchstreifen die Menschen unglücklich und einsam den Planeten, um ihre andere Hälfte zu finden. Alle fühlen sich unzufrieden und leer, bis sie den einen Menschen finden, der ihr Gegenstück ist; und wenn sie sich mit ihm zu einem Ganzen zusammengeschlossen haben, brauchen sie nichts mehr. Keine Arbeit. Keine Familie. Keine Götter.
Sarah glaubte an die griechischen Götter ebenso wenig wie an den christlichen Gott, doch der Grundgehalt dieser Geschichte erschien ihr absolut wahr. In der Liebe ging es nicht um Glück oder Geborgenheit. Sie hatte nichts zu tun mit gemeinsamen Interessen und Lebenszielen. Respekt, Güte, Zuneigung: irrelevant. Liebe war das Blut, das durch die Adern rauschte, um zu seiner Quelle zu gelangen. Das Fleisch, das danach schrie, sich mit Fleisch zu vereinigen.
Das knochentiefe Wissen, dass es nichts anderes gab, nur das.
Eine Woche lang versuchte Sarah alles, um Daniel zum Sprechen zu bringen. Sie probierte es mit Gedichten, Vorträgen, Reizwäsche, Nacktheit, Betteln, Rufen, Kreischen und Schluchzen. Jeden Abend kam er erst spät nach Hause und schloss sich dann sofort im Schlafzimmer ein. Am
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt