Zaehme mich
jeder Beschreibung.
Am nächsten Morgen konnte sie kaum gehen, doch sie schaffte es, sich zum Spiegel zu schleppen. Dort stand sie und lächelte sich an, bis ihr Gesicht genauso schmerzte wie ihr ganzer Körper. Gestern war sie eine arktische Landschaft gewesen: eisige Leere, Nichts. Daniel hatte sie zum Leben erweckt. Mit Zähnen und Klauen, mit Gürteln und Schnallen, mit Streichhölzern und Glas hatte er ihr Struktur und Farbe verliehen. Seine Dunkelheit, die Abgründe seines Wesens bildeten sich überall auf ihr ab.
Sie war erfreut, so gezeichnet zu sein.
4
An einem Freitagnachmittag kam Daniel nicht von der Arbeit nach Hause. Um nicht unnötig seinen Zorn zu erregen, für den Fall, dass er nur vergessen hatte, ihr von einer späten Besprechung zu erzählen, wartete Sarah bis sieben Uhr, ehe sie in der Schule und danach auf seinem Mobiltelefon anrief. Beide Anrufe wurden an seine Mailbox weitergeleitet, ebenso wie die mindestens hundert weiteren Versuche, die sie in den nächsten viereinhalb Stunden machte.
Um halb zwölf betrat er die Wohnung und ging vorbei am Wohnzimmer, wo sie schluchzend auf dem Boden saß. Er steuerte direkt aufs Bad zu. Sarah lief ihm nach, doch die Tür war verschlossen.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, rief sie.
Keine Antwort. Sie stand draußen und hörte die Dusche.
Als kein Wasser mehr floss, versuchte sie es noch einmal.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Er öffnete die Tür und kam heraus. »Mir geht’s gut.« Er machte einen Bogen um sie und ging ins Schlafzimmer.
Ihre Panik wurde noch stärker als in den Stunden der Ungewissheit. Sie folgte ihm. »Was ist los?«
Er saß auf dem Bett und trocknete sich die Füße. »Nichts, was soll denn sein, Sarah.« Er würdigte sie keines Blickes.
»Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Du warst nicht erreichbar, und ich hab nicht gewusst …«
»Ich habe mir in aller Ruhe ein paar Drinks genehmigt.
Die Betonung liegt auf ›in aller Ruhe‹. Die Vorstellung, dass ich mir den ganzen Abend dein ununterbrochenes Geplapper anhören muss, war mir einfach unerträglich.«
Er stand auf und hängte das Handtuch über das Kopfteil des Betts. »Also halt bitte den Mund, sonst muss ich wieder ins Pub.«
Sarah schaute ihm zu, wie er die Decke zurückschlug und sich ins Bett legte. Am Morgen hatte er beim Abschiednehmen die Beherrschung verloren und sie bei sperrangelweit geöffneter Wohnungstür durchgevögelt.
Als sie kam, biss sie ihn so heftig, dass er wegen des Bluts auf dem Kragen das Hemd wechseln musste. Als er schließlich aufbrach, sagte er: Ich glaube, ich werde dich nie anschauen können, ohne dich fressen zu wollen.
Sarah zog sich aus, machte das Licht aus und glitt neben ihm unter die Bettdecke. Als sie ihn küssen wollte, grunzte er nur und rollte sich am Bettrand zu einer Kugel zusammen.
»Daniel? Warum bist du so?«
Er seufzte. »Hab ich dir doch gesagt.«
»Mein unaufhörliches Geplapper geht dir auf die Nerven?«
»Ja, das Geplapper und dein teigiges Gesicht und dein knochiger Arsch.«
Sarah wusste genau, dass er mit solchen Beschimpfungen nur von anderen Dingen ablenken wollte.
Aber die Kränkung schmerzte deshalb nicht weniger. Sie atmete mehrmals tief durch. »Möchtest du, dass ich gehe?«
»Ja, gute Idee. Geh und belästige einen von deinen anderen Liebhabern. Du findest bestimmt einen, bei dem du übernachten kannst.«
»Okay, das reicht.« Sarah schaltete die Nachttischlampe an. Sie kletterte über ihn hinweg und hockte sich neben das Bett, um zu ihm aufblicken zu können. »Daniel, du erzählst mir jetzt, was los ist, verdammte Scheiße. Sonst hau ich wirklich ab.«
»Na schön, Sarah. Komm her.« Er schwang die Beine über die Bettkante und streckte ihr die Hände entgegen.
Gerührt ließ sie sich von ihm nach oben ziehen. Sie wollte ihn küssen, doch er packte sie nur lachend um die Taille und hob sie in die Luft. »Du weißt einfach nicht, wann du aufhören musst.«
Er trug sie aus dem Schlafzimmer, durch den Flur, vorbei an der Küche und dem Wohnzimmer. Sarah trat mit den Füßen nach ihm und weinte, doch er blieb völlig unbewegt.
Er machte die Wohnungstür auf und ließ sie fallen.
»Das…«, fing sie an, doch da hatte sich die Tür bereits wieder geschlossen.
Auf diesem Stockwerk gab es nur eine andere Wohnung, die obendrein leer stand, aber trotzdem befand sich Sarah in einem allgemein zugänglichen Korridor und war den demütigenden Blicken jedes Bewohners oder Besuchers ausgesetzt, der
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