Zaehme mich
Adrenalinstoß und der heftigen Muskelverkrampfung war ihr das Blut aus dem Kopf gewichen, und sie hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen. Er missverstand ihre Anspannung und fing an, ihren Kopf zu streicheln. »Ist ja gut, ist ja schon gut, Baby.« Immer wieder sagte er diese Worte, während Sarah innerlich kochte und bemüht war, genügend Fassung zurückzugewinnen, um allein stehen zu können.
Schließlich wurde ihr Puls langsamer und kam wieder in die Nähe seines Normalwerts. »Du hast keine Ahnung von mir.« Ruhig löste sie sich von ihm.
»Sarah?« Er griff nach ihr. Sie sprang zurück und hielt abwehrend die Hände hoch.
»Fass mich nicht an. Nie wieder.«
Seine Hände flogen hinauf zum Kopf. Mehrere Sekunden gaffte er sie an, ließ die Hände sinken, wollte die Arme nach ihr ausstrecken und fing dann wieder an, sich mit den Fingern durchs Haar zu harken. »Sarah, ich
…«
Sie machte eine wegwerfende Geste aus dem Handgelenk und verließ mit hocherhobenem Kopf das Zimmer. Sie wollte nicht weinen. Das war unter ihrer Würde.
Jamie sah, wie Sarah und Mike nach oben schlichen, und zweiundzwanzig Minuten später beobachtete er, wie sich Sarah kichernd und hüftenschwenkend an einen großen schwarzen Mann mit rasiertem Schädel heranmachte.
Nach weiteren drei Minuten lehnten Sarah und der Mann am Zaun und küssten sich. Jamie bemühte sich, Mut aus diesem Schauspiel zu schöpfen. Es konnte ihn doch nur noch mehr abhärten, wenn er sah, wie zwanglos sie sich dem Nächstbesten an den Hals warf. Er erinnerte sich, dass er jetzt viel besser dran war, weil er wusste, dass sie ihn nur als einen entbehrlichen Schwanz in einer endlosen Reihe von entbehrlichen Schwänzen betrachtete.
Und es tat so weh, dass er sich am liebsten sein verdammtes Herz herausgerissen hätte.
Aber das war gut. Sarah bedeutete Schmerz; Shelley bedeutete Geborgenheit. Solange er diesen Unterschied nicht aus den Augen verlor, konnte er sich von ihr fern halten und sich darauf konzentrieren, ein Vater zu sein, wie ihn sein Kind verdiente. Denn sein Kind verdiente einen guten Vater – wie jedes Kind. Sarah war der beste Beweis dafür, wie verkorkst jemand werden konnte, wenn er beschissene Eltern hatte.
»Jamie, hast du mal eine Sekunde?« Mike klopfte ihm auf den Rücken.
Jamie sah Mikes verschwitztes Gesicht und das zerzauste Haar und wandte schnell wieder den Blick ab.
»Was ist denn los?«
»Sarah ist sauer auf mich, aber so richtig.«
»Warum?« Jamie zwang sich, die obszöne Darbietung am Zaun mit Gleichmut zu betrachten.
»Ich hab keinen Schimmer, verdammt. Typisch Frau, komplett irrational. Vielleicht kriegt sie bald ihre Periode.«
»Sarah kriegt ihre Periode nicht.« Als die Worte heraus waren, merkte er, wie merkwürdig sie aus seinem Mund klingen mussten. Und tatsächlich schaute ihn Mike an, als hätte er den ganzen Satz auf Griechisch gesagt. Da konnte er die Sache auch ganz erklären. »Sie manipuliert ihren Zyklus mit der Pille. Sie hält es für Zeitverschwendung, sich fünf Tage im Monat wie ein Stück Scheiße zu fühlen.«
Mike zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Ich hab ja gewusst, dass ihr eng befreundet seid, aber ich hatte keine Ahnung, dass ihr auch über so was redet. Das ist echt widerlich, Mann.«
»Entscheidend ist nur, dass sie sich nicht wegen ihrer Periode aufregt, sondern wegen was anderem, okay?«
Jamie war es eigentlich ziemlich egal, was Mike von ihm dachte. Sarah stand offensichtlich kurz davor, sich zusammen mit ihrem neuen Freund zu verkrümeln, und Jamie hatte ihr noch nicht einmal zum Geburtstag gratuliert. Das hatte er seit ihrem dreizehnten Geburtstag noch nie versäumt. Damals hatte er ihr ein Buch über das europäische Mittelalter geschenkt, und sie hatte ihn zum ersten Mal auf die Wange geküsst.
»Wenn du schon jedes Detail ihrer Existenz kennst, dann kannst du mir vielleicht einen kleinen Tipp geben, was mit ihr los ist, verdammte Kacke.«
Jamie seufzte. Ihm war schon klar, was mit Sarah los war: Sie hatte eine Art von Persönlichkeitsstörung, die dazu führte, dass sie nur glücklich war, wenn sie sich und allen Menschen ihrer Umgebung Schmerzen und Unannehmlichkeiten bereitete.
»Was ist denn passiert?« Er wusste, dass er die Frage bereuen würde.
»Ich wollte bloß mit ihr darüber reden, warum sie nicht mit ihren Alten spricht, da ist sie völlig ausgerastet und wutschnaubend aus dem Zimmer gestürzt.«
Plötzlich war Jamie hellwach. »Was genau hast du zu ihr
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