Zaertlich ist die Nacht
einzige Unterschied zwischen der Nicole von heute und der Nicole von vor fünf Jahren war lediglich der, dass sie jetzt kein junges Mädchen mehr war. Aber der aktuelle Jugendkult des Kinos, wo der Eindruck erzeugt wurde, als ob Myriaden von Kindfrauen alle Arbeit und Weisheit der Welt in sich trügen, hatte auch sie so beeindruckt, dass sie Eifersucht auf die Jugend spürte.
Sie zog das erste knöchellange Kleid an, das sie sich seit vielen Jahren erlaubt hatte, und bekreuzigte sich ehrfürchtig mit Chanel Nummer Neunzehn. Als Tommy um ein Uhr vors Haus fuhr, hatte sie ihre Person in den gepflegtesten aller Gärten verwandelt.
Wie gut es sich anfühlte, alles so hergerichtet zu haben! |441| Wieder angebetet zu werden! So zu tun, als hätte man ein Geheimnis!
Sie hatte einige der herrlichen arroganten Jahre im Leben eines hübschen Mädchens versäumt – die wollte sie jetzt endlich nachholen. Sie begrüßte Tommy, als wäre er einer von vielen Männern, die ihr zu Füßen lagen, und ging nicht neben ihm, sondern vor ihm her, als sie den Garten durchquerten und zu dem großen Sonnenschirm kamen. Attraktive Frauen von neunzehn und neunundzwanzig sind sich ganz gleich in ihrem luftigen Selbstvertrauen; das Gewicht des Schoßes, der seine Fruchtbarkeit schon bewiesen hat, zieht die Welt nicht herunter, und wo die Jugend unverschämt wie ein junger Kadett aufmarschiert, zeigt die Ältere den Stolz eines Kämpfers, der aus der Schlacht kommt.
Aber während ein neunzehnjähriges Mädchen sein Selbstvertrauen aus einem Übermaß an Aufmerksamkeit herleitet, weiß eine Frau von neunundzwanzig sich auf subtilere Art zu ernähren. Wenn sie ein Verlangen spürt, wählt sie ihren Aperitif mit Verstand, und wenn sie befriedigt ist, genießt sie den Kaviar möglicher Macht. Glücklicherweise antizipiert sie weder im einen noch im anderen Falle die späteren Jahre, wenn ihre Erkenntnisfähigkeit nur allzu oft von Panik getrübt wird, von der Angst vor dem Aufhören oder dem Weitermachen. Aber auf den Treppenabsätzen von Neunzehn und Neunundzwanzig kann sie sich noch ziemlich sicher sein, dass keine Bären und Wölfe da unten lauern.
Nicole wollte keine vage, spirituelle Romanze – sie wollte eine echte »Affäre«; sie wollte Veränderung. Aber da sie immer noch dachte wie Dick, war es ihr völlig bewusst, dass es ein durchaus vulgäres Geschäft war, sich ohne |442| innere Gefühle auf eine Lust einzulassen, die eine Gefahr für sie alle sein konnte.
Andererseits gab sie Dick auch die Schuld an der aktuellen Situation und war ehrlich überzeugt, ein solches Experiment könnte von therapeutischem Wert sein. Den ganzen Sommer über hatte sie Leute beobachtet, die genau das getan hatten, was sie jetzt tun wollte, und keinerlei Bestrafung dafür erfahren hatten – und obwohl sie sich vorgenommen hatte, sich nicht mehr selbst zu belügen, redete sie sich auch jetzt noch ein, dass sie sich lediglich vortastete und jederzeit wieder zurückziehen konnte …
Im leichten Schatten des Gartens umfasste sie Tommy mit seinen weißen Leinenärmeln, drehte sie zu sich herum und schaute ihr in die Augen. »Beweg dich nicht«, sagte er. »Ich werde dich von jetzt an sehr viel ansehen.«
Er hatte einen Duft im Haar, und sein weißer Anzug roch schwach nach Kernseife. Ihre Lippen waren straff gespannt und lächelten nicht. Einen Augenblick lang sahen sie sich einfach nur an.
»Gefällt es dir, was du siehst?«, flüsterte sie.
»Parle français.«
»Na gut«, sagte sie und wiederholte ihre Frage noch einmal auf Französisch. »Gefällt es dir, was du siehst?«
Er zog sie näher an sich heran. »Ich mag alles, was ich an dir sehe.« Er zögerte. »Ich dachte, dass ich dein Gesicht kenne, aber es gibt ein paar Dinge darin, von denen ich noch nichts wusste. Seit wann hast du weiße Verbrecheraugen?«
Schockiert und ärgerlich riss sie sich los und schrie auf Englisch: »Wolltest du deshalb französisch reden?«
Der Butler kam mit dem Sherry, und Nicole senkte die Stimme.
|443| »Damit du mich besser beleidigen kannst?« Sie parkte ihr kleines Gesäß mit einer heftigen Bewegung auf dem silberdurchwirkten Sitzkissen.
»Ich habe keinen Spiegel hier«, sagte sie, jetzt wieder französisch, aber dennoch entschieden. »Wenn sich meine Augen verändert haben, dann nur, weil ich wieder gesund bin. Und weil ich wieder gesund bin, bin ich auch wieder ich selbst. Mein Großvater ist ein richtiger Gauner gewesen, und das habe ich
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