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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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jüngere Schwester sich an einen verkommenen Arzt verschwendet hätte, der »nirgendwo mehr empfangen« würde, wie die Frau sagte.
    Der Satz wirkte verstörend auf Rosemary, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, in Bezug auf welche gesellschaftlichen Kreise er von Bedeutung für die Divers sein sollte, wenn er denn überhaupt zutraf. Aber der Unterton von organisierter gesellschaftlicher Feindseligkeit hatte ihr in den Ohren geklungen. »Er wird nirgendwo mehr empfangen.« Sie stellte sich vor, wie Dick die Stufen eines Herrenhauses hinaufkletterte, seine Visitenkarte abgab und vom Butler mit der Auskunft beschieden wurde: »Sie werden hier nicht mehr empfangen«, und wie er dann weiter die Straße hinunterging, nur um von unzähligen weiteren Butlern von unzähligen weiteren Botschaftern, Ministern und Geschäftsträgern immer dasselbe zu hören   …
    Nicole überlegte, wie sie am besten abhauen könnte. Sie ahnte, dass Dick jetzt so weit aufgeschreckt war, dass er Rosemary mit seinem ganzen Charme umwerben und diese auch darauf eingehen würde. Und richtig: Im nächsten Augenblick relativierte er alles Negative, was er gesagt hatte: »Mary ist schon in Ordnung   – sie hat es wirklich sehr gut getroffen. Aber es ist nicht einfach, Leute weiter zu mögen, die einen ablehnen.«
    Rosemary schwenkte sofort darauf ein und flötete: »Ach, Dick, du bist immer so nett. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwelche Leute gibt, die dir nicht alles vergeben würden, ganz egal, was du ihnen angetan hast.«
    Dann, im Gefühl, mit ihrem Überschwang in Nicoles angestammte Rechte eingegriffen zu haben, starrte sie auf den Sand genau zwischen dem Ehepaar: »Ich wollte euch |436| noch fragen, was ihr von meinen letzten Filmen haltet   – falls ihr sie gesehen habt.«
    Nicole schwieg. Sie hatte nur einen gesehen und wenig davon gehalten.
    »Dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen«, erklärte Dick. »Nehmen wir mal an, dass Nicole dir erzählt, dass Lanier krank sei. Was würdest du tun, im richtigen Leben? Was würden andere tun? Sie würden
schauspielern
– mit ihrem Mienenspiel, ihrer Stimme und ihren Worten. Das Gesicht zeigt Sorge, die Stimme spiegelt den Schrecken, die Worte sind voller Mitgefühl.«
    »Ja   – ich verstehe.«
    »Nicht so im Theater. Hier haben die besten Schauspielerinnen ihren Ruf gerade damit begründet, dass sie die korrekten emotionalen Reaktionen   – also Furcht, Liebe und Mitgefühl - verweigern oder sogar parodieren.«
    »Ich verstehe«, sagte Rosemary, obwohl sie durchaus nicht verstand.
    Nicole hatte längst den Faden verloren und ihre Ungeduld wuchs, als Dick fortfuhr: »Die Gefahr für eine Schauspielerin besteht darin, zu reagieren. Nehmen wir mal an, jemand sagt zu dir: ›Dein Geliebter ist tot.‹ Im wirklichen Leben würdest du wahrscheinlich zusammenbrechen. Aber auf der Bühne versuchst du zu unterhalten   – das ›Reagieren‹ kann das Publikum selbst übernehmen. Die Schauspielerin dagegen muss ihre Zeilen vortragen und die Aufmerksamkeit des Publikums von dem ermordeten Chinesen   – oder was auch immer   – wieder auf sich lenken. Deshalb muss sie etwas Unerwartetes tun. Wenn die Zuschauer denken, sie wäre ein harter Charakter, begegnet sie ihnen ganz weich   – wenn die Zuschauer denken, sie wäre weich, tritt sie auf einmal ganz hart auf. Du fällst |437| aus der Rolle und spielst gegen deine Figur, du verstehst?«
    »Nicht ganz«, gab Rosemary zu. »Wie meinst du das, ›aus der Rolle fallen‹?«
    »Du tust etwas Unerwartetes, bis du das Publikum von den objektiven Tatsachen weg und zu dir zurückgeholt hast. Dann schlüpfst du wieder in deine Rolle hinein.«
    Nicole konnte es nicht länger ertragen. Sie stand abrupt auf und machte keinerlei Versuch, ihre Ungeduld zu verbergen. Rosemary, die das schon seit einigen Minuten gespürt hatte, wandte sich versöhnlich an Topsy. »Na, würdest du gern Schauspielerin werden, wenn du einmal groß bist? Ich glaube, du würdest eine gute Schauspielerin werden.«
    Daraufhin warf ihr Nicole einen wütenden Blick zu und sagte mit der Donnerstimme ihres Großvaters: »Den Kindern anderer Leute solche Ideen in den Kopf zu setzen, ist absolut unpassend. Du solltest daran denken, dass wir vielleicht völlig andere Pläne für sie haben.« Sie wandte sich heftig um und sagte zu Dick: »Ich werde mit dem Wagen nach Hause fahren. Michel kann dich und die Kinder dann später abholen.«
    »Aber du bist doch seit

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