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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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wohl geerbt. Befriedigt das dein logisches Gemüt?«
    Er schien kaum zu wissen, wovon sie sprach. »Wo ist denn Dick? Wird er mit uns zu Mittag essen?«
    Als sie erkannte, dass er sich bei seiner Bemerkung gar nichts weiter gedacht hatte, lachte sie deren Wirkung auf sich einfach weg. »Dick macht einen Ausflug«, sagte sie. »Rosemary Hoyt ist gestern aufgetaucht, und jetzt sind sie entweder zusammen oder ihr Auftauchen hat ihn so verwirrt, dass er wegfahren musste, um von ihr zu träumen.«
    »Du bist schon ein bisschen kompliziert, weißt du.«
    »Nein, nein«, versicherte sie eilig. »Nein, bin ich nicht   – ich bin nur eine   – ich bin bloß eine ganze Menge einfacher Leute.«
    Marius brachte eine Melone und eine Flasche Wein in einem Kübel Eis heraus, und Nicole, die immer noch über ihre »Verbrecheraugen« nachdenken musste, schwieg für einen Moment. Dieser Mann gab einem Nüsse zu knacken und fütterte einen nicht mit den Kernen.
    »Warum haben sie dich nicht in deinem natürlichen Zustand belassen?«, fragte Tommy. »Du bist die wildeste Frau, die ich kenne.« Sie wusste keine Antwort. »All diese Versuche, die Frauen zu zähmen!«, höhnte er.
    »In jeder Gesellschaft gibt es gewisse   –« Sie spürte Dicks |444| Gegenwart an ihrer Seite, der ihr die Worte einflüsterte, aber sie ließ es geschehen, dass Tommy sie übertönte.
    »Ich habe schon einige Männer mit meinen Fäusten in Form gebracht, aber an Frauen würde ich mich nicht herantrauen. Vor allem nicht mit diesem Freundlichkeitsterror   – wozu soll der eigentlich gut sein? Was hast du davon? Oder er? Oder sonst irgendjemand?«
    Ihr Herz machte einen Freudensprung, sank dann aber gleich wieder in sich zusammen, als sie daran dachte, was sie Dick schuldete. »Ich nehme an, ich habe   –«
    »Du hast zu viel Geld«, sagte er ungeduldig. »Das ist doch der springende Punkt. Dagegen kann Dick nicht an.«
    Nicole überlegte, während die Überreste der Melone abgeräumt wurden. »Was sollte ich deiner Meinung nach tun?«
    Zum ersten Mal seit zehn Jahren stand sie unter dem Einfluss einer anderen Person als der ihres Mannes, und jedes Wort, dass Tommy jetzt zu ihr sagte, wurde für immer ein Teil von ihr.
    Sie tranken den Weißwein, während ein schwacher Wind die Piniennadeln vibrieren ließ und die sinnliche Hitze des frühen Nachmittags das Tischtuch mit Sonnensprenkeln bedeckte. Tommy trat hinter sie, legte seine Arme auf ihre und umschloss ihre Hände. Ihre Wangen berührten sich, und dann ihre Lippen, und sie keuchte, vor Leidenschaft für ihn und vor Überraschung, wie heftig sie war   …
    »Kannst du die Gouvernante und die Kinder für den Nachmittag wegschicken?«
    »Sie haben eine Klavierstunde. Außerdem will ich nicht hier bleiben.«
    »Küss mich noch einmal.«
     
    |445| Als sie etwas später nach Nizza fuhren, dachte sie: ›Ich hab also weiße Verbrecheraugen, ja? Na gut, lieber ein gesunder Gauner als eine puritanische Irre.‹
    Seine Selbstsicherheit schien sie aller Verantwortung oder Schuld zu entheben, und sie spürte ein köstliches Kribbeln, als sie sich plötzlich in einem ganz anderen Licht sah. Neue Perspektiven erschienen vor ihr, die bevölkert waren mit den Gesichtern von Männern, denen sie nicht gehorchen und die sie nicht einmal lieben musste.
    Sie zog mit einem kleinen Bibbern die Schultern hoch, sog tief die Luft ein und drehte sich zu Tommy um. »Müssen wir wirklich den ganzen Weg nach Monte Carlo in dein Hotel fahren?«
    Er brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen.
    »Nein!«, rief er, und: »Mein Gott, ich war noch nie so glücklich wie in dieser Minute.«
    Sie waren durch Nizza gefahren, der blauen Küste gefolgt und auf dem Weg hinauf zur Corniche, aber jetzt drehte Tommy zum Meer ab, fuhr hinaus auf eine stumpfnasige Halbinsel und hielt hinter einem kleinen Hotel.
    Dessen konkreter Anblick erschreckte Nicole für einen Moment. Am Empfang stand ein Amerikaner, der sich endlos mit dem Portier über den Wechselkurs stritt. Während Tommy die polizeilichen Anmeldeformulare ausfüllte   – seins mit dem richtigen Namen, ihres mit einem falschen   – schwebte sie neben ihm, äußerlich ruhig, aber innerlich elend.
    Ihr Zimmer war sehr mediterran: asketisch und beinahe sauber, verdunkelt gegen das gleißende Licht von der See. Einfache Freuden und einfache Orte. Tommy bestellte zwei Cognacs, und als die Tür sich hinter dem Kellner geschlossen hatte, setzte er sich auf den einzigen

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