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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Schwächen haben, vielleicht sogar einen kleinen Knacks. Aber wenn ihm das Leben nicht dazu verhilft, dann sind eine Krankheit, ein gebrochenes Herz oder ein Minderwertigkeitskomplex auch |180| kein Ersatz; obwohl es natürlich schön wäre, wenn man eine beschädigte Persönlichkeit so lange restaurieren und ausbauen könnte, bis sie besser als die ursprüngliche wäre.«
    Er spottete über seine eigene Logik, nannte sie verlogen und amerikanisch   – hirnlose Phrasen nannte er gern »amerikanisch«. Er wusste aber, dass der Preis für seine Unversehrtheit die Unvollkommenheit war.
    »Das Beste, mein Kind, was ich dir wünschen kann«, sagt die Fee in Thackerays ›Rose und Ring‹, »ist ein klein bisschen Unglück.«
    Manchmal war ihm bei seiner eigenen Logik auch unwohl und dann sagte er: Kann ich was dafür, dass Pete Livingstone am Tap Day 1* in der Umkleidekabine herumhockte, als ihn alle Welt suchte? So habe ich die Einladung zur Elihu-Gesellschaft bekommen, was sonst sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, weil ich so wenig Leute kannte. Er war der Richtige, eigentlich hätte ich an seiner Stelle im Umkleideraum sitzen sollen. Vielleicht hätte ich das auch getan, wenn ich damit gerechnet hätte, dass man mich einladen würde. Aber Mercer ist all diese Wochen zu mir aufs Zimmer gekommen. Wahrscheinlich hab ich geahnt, dass ich eine Chance hatte   – eine gute Chance. Aber es wäre mir recht geschehen, wenn ich später beim Duschen meine Nadel verschluckt und damit einen seelischen Konflikt ausgelöst hätte.
    Nach den Vorlesungen in der Universität erörterte er diese Frage mit einem jungen rumänischen Intellektuellen, der ihm aber versicherte, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Goethe oder ein Mann wie C.   G.   Jung jemals einen »Konflikt« im modernen Sinne gehabt hätten. »Sie sind doch kein romantischer Philosoph, sondern ein Wissenschaftler. Gedächtnis, Kraft, Charakter   – vor allem gesunder |181| Menschenverstand. Das wird irgendwann Ihr Problem: die ständige Angst vor dem Urteil der anderen. Ich kannte mal einen Mann, der zwei Jahre lang am Gehirn des Gürteltiers gearbeitet hat. Er dachte, auf diese Weise würde er früher oder später mehr über das Gehirn des Gürteltiers wissen als jeder andere Mensch. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass er damit das menschliche Wissen nicht wirklich erweitern würde   – das Thema sei zu beliebig. Und richtig: Als er seinen Aufsatz an eine große Fachzeitschrift schickte, wurde er abgelehnt   – sie hatten gerade zum selben Thema einen Aufsatz von einem anderen angenommen.«
    Richard Diver kam mit weniger Achillesfersen nach Zürich, als man für einen Tausendfüßler gebraucht hätte, aber es waren trotzdem noch ziemlich viele: die Illusionen von ewiger Gesundheit und Stärke, der Glaube an das essenziell Gute im Menschen, die Vorstellung von der Nation und die Lügen der Mütter in der amerikanischen Wildnis, die ihren Kindern weismachen mussten, es gebe keine Wölfe vor der Tür ihrer Blockhütte. Nach dem Examen erhielt er den Befehl, sich bei einer neurologischen Einheit zu melden, die in Bar-sur-Aube zusammengestellt wurde.
    In Frankreich hatte er zu seinem Ärger mehr mit Verwaltung zu tun als mit praktischer Arbeit. Das wurde allerdings dadurch ausgeglichen, dass er Zeit hatte, sein kleines Lehrbuch zu Ende zu schreiben und Material für die nächste Arbeit zu sammeln. Im Frühjahr 1919 wurde er aus der Armee entlassen und kehrte nach Zürich zurück.
    Das Vorstehende klingt ein bisschen nach Biografie, ohne dass man die befriedigende Gewissheit hätte, dass aus dem Helden, der wie Ulysses S.   Grant in Galena, Illinois, in seinem Gemischtwarenladen hockte, auch irgendwas Interessantes wird. Es ist ja auch einigermaßen verwirrend, auf |182| das Jugendfoto eines Mannes zu stoßen, den wir als abgerundeten, reifen Menschen kennen, und einigermaßen erschrocken auf einen hitzigen, hageren Fremden mit wilden Vogelaugen zu starren. Zur Beruhigung also: Dick Divers Stunde war jetzt gekommen.

2
    Es war ein feuchter Apriltag mit langen, schräg laufenden Wolken über dem Albishorn und reglosem Wasser an niedrigen Stellen. Zürich ist manchen amerikanischen Städten gar nicht so unähnlich. Seit er vor zwei Tagen aus Frankreich gekommen war, hatte Richard etwas vermisst, und jetzt wusste er auch, was es war: das Gefühl, dass jenseits der klar umrissenen französischen Straßen nur leerer Himmel war. In Zürich gab es außer Zürich

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