Zaertlich ist die Nacht
meine Schwester ist nun mal eine ganz Vornehme –« Erneut lachten Nicole und Marmora in jugendlicher Vertrautheit.
»Wo fahren Sie hin?«, fragte Dick.
»Nach Caux 3* . Sie auch?« Nicole musterte seine Bekleidung. »Ist das Ihr Fahrrad da vorn?«
»Ja, ich will am Montag ins Tal rollen.«
»Nehmen Sie mich auf die Stange? Ich meine, ernsthaft – wollen Sie das tun? Ich kann mir kein größeres Vergnügen vorstellen.«
»Aber ich werde Sie
auf Händen
hinuntertragen«, protestierte Marmora. »Ich rase auf Rollschuhen mit Ihnen hinunter – oder ich werfe Sie von einem Felsen und Sie segeln wie eine Feder hinunter.«
Das Entzücken auf Nicoles Gesicht – wieder eine Feder zu sein und kein Bleigewicht, zu schweben und niemanden runterzuziehen! Es war ein buntes Fest, ihr zuzusehen – |230| manchmal war sie steif und scheu, dann wieder posierte, grimassierte und gestikulierte sie heftig – nur gelegentlich fiel ein Schatten und die ernste Würde des langen Leids durchströmte sie bis in die Fingerspitzen. Dick wünschte, er wäre nicht hier in ihrer Nähe; er fürchtete, er könnte eine Erinnerung an eine Welt sein, die sie endlich hinter sich gelassen hatte. Er beschloss, in das andere Hotel zu gehen.
Diejenigen, die zum ersten Mal mitfuhren, wurden unruhig, als die Bahn plötzlich stehen blieb im Blau zweier Himmel. Aber es ging nur um einen rätselhaften Austausch zwischen dem Schaffner, der nach oben, und dem, der nach unten fuhr. Dann ging es über einen Waldweg und eine Schlucht hoch auf eine Wiese, die bis zum Himmel mit Narzissen bedeckt war. Die Leute auf den Tennisplätzen in Montreux waren jetzt nur noch wie Stecknadelknöpfe. Etwas Neues lag in der Luft, eine Frische, die zu Musik wurde, als die Bahn geräuschlos nach Glion hineinglitt und man das Orchester im Garten des Hotels hörte.
Dann wechselten sie in die Bahn, die nach Caux hinauffuhr, und die Musik wurde von dem Rauschen des Wassers übertönt, das aus dem Ballasttank strömte. Direkt über ihnen lag Caux, wo die tausend Fenster des Grandhotels im Licht des Sonnenuntergangs brannten.
Aber diesmal war die Fahrt anders: Eine kleine Dampflok mit rasselnder Lunge stieß die Passagiere in Korkenzieherkurven hinauf. Sie tuckerten durch ein paar niedrig hängende Wolken und für einen Moment konnte er Nicoles Gesicht im Dampf der schräg nach oben ziehenden Lokomotive nicht mehr erkennen. Sie umrundeten eine weitere verlorene Biegung, und nach jeder Kurve schien das Hotel größer zu werden, bis sie schließlich überraschend ihr Ziel erreichten, hoch über dem Sonnenschein.
|231| In der allgemeinen Konfusion der Ankunft schulterte Richard seinen Tornister. Er ging nach vorn, um sein Fahrrad zu holen, und Nicole ging an seiner Seite.
»Sind Sie nicht in unserem Hotel?«, fragte sie.
»Ich muss etwas sparen.«
»Kommen Sie dann wenigstens zum Abendessen herunter?« Beim Ausladen des Gepäcks gab es erneut Durcheinander. »Das ist meine Schwester – Doktor Diver aus Zürich.«
Richard verbeugte sich vor einer hochgewachsenen, selbstbewussten jungen Frau von ungefähr fünfundzwanzig. Sie war zugleich respekteinflößend und verletzlich, fand er. Sie erinnerte ihn an manche anderen Frauen mit Blütenlippen, die nur darauf zu warten schienen, an die Kandare genommen zu werden.
»Ich werde nach dem Essen vorbeischauen«, versprach er. »Ich muss mich erstmal akklimatisieren.«
Er schob sein Fahrrad dreihundert Meter den Berg hoch zu dem anderen Hotel und spürte dabei, dass Nicoles Blicke ihm folgten, spürte ihre erste, hilflose Liebe und wie sie in ihm rumorte. Er nahm sich ein Zimmer und kam erst beim Waschen wieder ganz zu sich, ohne zu wissen, wie er die letzten zehn Minuten verbracht hatte, die nur ein trunkener, von belanglosen Stimmen zerrissener Nebel gewesen waren. Stimmen, die keine Ahnung davon hatten, wie er geliebt wurde.
9
Sie warteten schon auf ihn, waren ohne ihn unvollständig. Immer noch war er das unberechenbare Element; Miss Elizabeth Warren und der junge Italiener trugen ihre Erwartung genauso offen zur Schau wie Nicole. Der Salon |232| des Hotels war berühmt für seine Akustik. Man hatte ihn zum Tanzen ausgeräumt, aber es gab eine kleine Galerie voller nicht mehr ganz junger Engländerinnen mit Halsbändern, gefärbtem Haar und gepuderten, grau-rosa Gesichtern und nicht mehr ganz junger Amerikanerinnen mit schneeweißen Perücken, schwarzen Kleidern und kirschroten Lippen. Miss Warren und
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