Zaertlich ist die Nacht
Marmora saßen an einem Ecktisch – Nicole stand schräg gegenüber fast vierzig Meter entfernt von ihnen auf der anderen Seite des Saals. Als Richard hereinkam, hörte er ihre Stimme:
»Könnt ihr mich hören? Ich spreche ganz normal.«
»Absolut.«
»Hallo, Doktor Diver.«
»Was machen Sie da?«
»Wissen Sie, die Leute in der Mitte des Saals können mich nicht hören, nur Sie!«
»Einer der Kellner hat uns davon erzählt«, sagte Miss Warren. »Von einer Ecke zur anderen – das ist wie Radio.«
Es war aufregend hier auf dem Berg, wie auf einem Ozeandampfer. Bald danach kamen auch die Eltern von Marmora an ihren Tisch. Sie behandelten die Warren-Schwestern mit großem Respekt – Richard hatte den Eindruck, dass ihr Vermögen etwas mit derselben Bank in Mailand zu tun hatte, mit dem auch das Vermögen der Warrens zu tun hatte. Aber Elizabeth »Baby« Warren wollte mit Richard reden, getrieben von einem Instinkt, der sie unstet auf alle neuen Männer zugehen ließ – so als läge sie an der Leine und wollte gleich zu Anfang so weit gehen, wie es ihr möglich war. Immer wieder schlug sie ein Bein über das andere, wie das alle ruhelosen, hochgewachsenen Jungfrauen tun.
»Nicole hat mir erzählt, dass Sie sich ein bisschen um sie |233| gekümmert und sehr viel dazu beigetragen haben, dass es ihr wieder gut geht. Bloß eins weiß ich nicht, nämlich was
wir
machen sollen. Da waren die Leute im Sanatorium sehr unbestimmt; sie haben nur gesagt, sie soll natürlich und fröhlich sein. Ich wusste, dass die Marmoras hier oben waren, und deshalb habe ich Tino gebeten, uns abzuholen. Aber Sie haben ja gesehen, was passiert ist: Bei der ersten Gelegenheit lässt ihn Nicole diese Klettertour durch den Waggon machen, als ob sie beide verrückt wären –«
»Das war völlig normal«, lachte Dick. »Ich würde das ein gutes Zeichen nennen. Die beiden wollten ein bisschen angeben vor einander.«
»Aber woher soll ich das wissen? Ehe ich begriffen hatte, was vorging, hat sie sich in Zürich direkt vor meinen Augen die Haare abschneiden lassen, bloß wegen eines Fotos in ›Vanity Fair‹.«
»Das ist in Ordnung. Sie ist schizoid – das heißt, sie wird immer ein bisschen exzentrisch sein. Daran kann man nichts ändern.«
»Was heißt das?«
»Genau das, was ich gesagt habe – sie ist ein bisschen exzentrisch.«
»Ja, und woher soll man wissen, was exzentrisch und was verrückt ist?«
»Es wird nichts Verrücktes mehr geben – Nicole ist ganz gesund, frisch und glücklich. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Baby zappelte schon wieder mit ihren Knien herum – sie war ein Fall aus dem Lehrbuch der unzufriedenen Frauen, die vor hundert Jahren Lord Byron geliebt hatten, und trotz der tragischen Geschichte mit dem britischen Gardeoffizier hatte sie etwas Hölzernes und Onanistisches an sich.
|234| »Ich bin durchaus bereit, die Verantwortung zu übernehmen«, erklärte sie. »Aber ich hänge irgendwie in der Luft. Wir hatten noch nie so etwas in der Familie. Wir wissen, dass Nicole irgendeinen Schock erlitten hat, und ich bin fest überzeugt, dass es dabei um einen Jungen ging, aber Genaueres wissen wir nicht. Vater sagt, er würde den Burschen erschießen, wenn er wüsste, was los war.«
Das Orchester spielte ›Poor Butterfly‹; der junge Marmora tanzte mit seiner Mutter. Das Lied war für alle noch neu. Dick hörte zu und beobachtete dabei Nicoles Schultern. Sie unterhielt sich mit Marmora senior, dessen Haare schwarzweiß gestreift waren wie die Tasten eines Klaviers, und ihre Schultern erinnerten Dick an eine Violine. Er dachte an die Schande und an das Geheimnis. Ach, Schmetterling – die Sekunden werden zu Stunden –
»Um ehrlich zu sein, habe ich schon einen Plan«, fuhr Baby mit nur leicht verlegener Beharrlichkeit fort. »Vielleicht erscheint er Ihnen untauglich, aber es heißt ja, dass Nicole noch ein paar Jahre lang eine gewisse Fürsorge braucht. Ich weiß nicht, ob Sie Chicago kennen –«
»Nein.«
»Also da gibt es eine North Side und eine South Side, die sich sehr unterscheiden. Die North Side ist ziemlich schick und so weiter, und da haben wir immer gelebt oder jedenfalls schon seit vielen Jahren, aber viele alte Familien – alte Chicagoer Familien, wenn Sie wissen, was ich meine – leben immer noch auf der South Side. Da ist auch die Universität. Die meisten Leute finden die South Side schrecklich langweilig, aber jedenfalls ist sie
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