Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
Vom Netzwerk:
tatsächlich keinen gehabt, aber jetzt hab ich durchaus welchen. Wenn Sie denken, ich wüsste nicht, dass Sie der attraktivste Mann sind, den ich je kennengelernt habe, dann halten Sie mich offenbar immer noch für verrückt. Das ist mein Pech, okay   – aber tun Sie nicht so, als ob ich’s nicht
wüsste
– Ich weiß alles über Sie und mich.«
    Richard war jetzt gleich doppelt im Nachteil. Er erinnerte sich nur allzu gut an die Äußerungen der älteren Miss Warren über die jungen Doktoren, die auf den intellektuellen Viehhöfen der South Side gekauft werden konnten, und versteinerte für einen Moment. »Sie sind ein hübsches Kind«, sagte er. »Aber ich könnte mich nicht verlieben.«
    |238| »Du gibst mir ja keine Chance.«
    »Was?!«
    Die Dreistigkeit, mit der sie sich das Recht herausnahm, nach ihm zu greifen, haute ihn um. Wenn nicht gerade völlige Anarchie ausbrach, konnte er sich nicht vorstellen, was für eine Chance Nicole Warren verdient hätte.
    »Gib mir jetzt eine Chance!« Ihre Stimme wurde ganz leise, sank tief in ihre Brust hinunter und dehnte ihr enges Kleid über dem Herzen, als sie nahe zu ihm heraufkam. Er spürte ihre jungen Lippen und die Erleichterung ihres Körpers, als sie sich in seinen Arm sinken ließ, der jetzt stark genug war, um sie zu halten.
    Plötzlich gab es keine Pläne mehr; es war, als hätte Dick leichtfertig eine chemische Verbindung geschaffen, deren Atome untrennbar miteinander verschmolzen waren; man konnte das Ganze wegschütten, aber in getrennte Atome würde sie nicht mehr zerfallen. Als er sie im Arm hielt und ihre Lippen schmeckte, als sie sich immer enger an ihn schmiegte und sich selbst dabei neu wurde, als sie, von Liebe verschlungen und überflutet, getröstet und siegreich in seinen Armen lag, konnte er dankbar sein, dass er überhaupt noch existierte   – wenn auch nur noch als Spiegelung in ihren nassen Augen.
    »Mein Gott«, keuchte er. »Dich zu küssen macht wirklich Spaß.«
    Aber das war nur Gerede; Nicole hatte ihn jetzt im Griff und ließ auch nicht mehr locker; sie wurde kokett und wanderte davon, sodass er genauso in der Luft hing wie am Nachmittag in der Seilbahn. ›Na also‹, dachte sie, ›jetzt wird er schon sehen, wie eingebildet er war, als er gedacht hat, er könnte so mit mir umspringen. Ach, war es nicht wundervoll? Ich habe ihn, jetzt gehört er mir‹. Als Nächstes |239| kam jetzt die Flucht, aber es war alles so süß und neu, dass sie ein bisschen trödelte, um es noch mehr zu genießen.
    Sie fröstelte plötzlich. Siebenhundert Meter unter ihr sah sie ein glitzerndes Hals- und ein glitzerndes Armband; das waren Montreux und Vevey; erst viel weiter hinten leuchtete Lausanne als Anhänger. Von irgendwo da unten drang der schwache Widerhall von Tanzmusik herauf. Nicole war jetzt ganz zu Hause in ihrem Kopf, kühler als kühl versuchte sie, die Gefühle ihrer Kindheit zusammenzutragen, genau wie ein Soldat sich nach der Schlacht planmäßig besäuft.
    Trotzdem hatte sie immer noch Angst vor Dick, der neben ihr stand und sich in seiner typischen Art an das eiserne Geländer lehnte, das die Promenade begrenzte. »Ich weiß noch, wie ich im Garten auf dich gewartet habe«, sagte sie. »Ich hatte mein ganzes Selbst in den Armen wie einen Korb voller Blumen. So kam es mir jedenfalls vor   – ich dachte, ich wäre so süß   – wie ich darauf wartete, dir diesen Korb in die Hände zu drücken.«
    Über ihre Schultern hinweg stieß er den Atem aus und drehte sie heftig zu sich herum. Sie küsste ihn mehrfach und hielt ihn dabei an den Schultern fest. Je näher sie kam, desto größer wurde dabei ihr Gesicht.
    »Es regnet.«
    Aus den Weinbergen auf der anderen Seite des Sees ertönte plötzlich ein lautes Krachen, als Böllerschüsse auf die Hagelwolken abgefeuert wurden, um sie zum Platzen zu bringen. Die Lichter auf der Promenade erloschen und gingen gleich wieder an. Das Gewitter kam rasend schnell, erst fiel das Wasser vom Himmel, dann rauschte es in Strömen vom Gebirge herunter durch die steinernen Gräben und über die Straßen; grelle Blitze zuckten über den furchterregenden, pechschwarzen Himmel, dann rollte ein |240| weltzertrümmernder Donner herunter, während gezackte Wolken vorbeischossen. See und Berge waren verschwunden   – das Hotel duckte sich im Tumult, in der Finsternis und im Chaos.
    Inzwischen hatten Dick und Nicole aber auch schon die Eingangshalle erreicht, wo Baby Warren und die drei Marmoras voller Angst

Weitere Kostenlose Bücher