Zaertlich ist die Nacht
Sportler sein wollte. Er ließ sich etwas Alkohol geben und säuberte sein Äußeres, während die Bahn in die Station einlief. Er sah zu, wie sein Fahrrad in den Vorsetzwagen |227| verladen wurde, warf seinen Tornister in das Abteil und setzte sich dann daneben.
Bergbahnen werden an Hängen errichtet, die so steil wie die Hutkrempe von Männern sind, die nicht erkannt werden wollen. Während das Wasser aus dem Ballasttank unter dem Wagen rauschte, freute sich Richard über die geniale Idee dieser Seilbahn: Genau jetzt wurde an der Bergstation ein Gegenstück dieses Wagens mit Wasser aus dem Gebirge befüllt und würde den erleichterten unteren Wagen nur mit Hilfe der Schwerkraft hinaufziehen, sobald die Bremsen gelöst wurden. Da hatte jemand mal einen hervorragenden Einfall gehabt. Auf der gegenüberliegenden Sitzbank unterhielt sich ein britisches Ehepaar über das Kabel.
»Die aus England haben immer fünf oder sechs Jahre gehalten. Vor zwei Jahren haben die Deutschen uns unterboten, und was glaubst du, wie lange das Seil gehalten hat?«
»Na, wie lange?«
»Ein Jahr und zehn Monate. Dann haben es die Schweizer an die Italiener verkauft. Die haben keine so scharfen Sicherheitskontrollen wie hier.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es ganz schrecklich für die Schweiz wäre, wenn so ein Seil reißen würde.«
Der Schaffner schloss eine Tür, dann rief er seinen hydraulischen Mitbruder am oberen Ende an, und mit einem Ruck setzte sich der Waggon in Bewegung. Sein Ziel war ein winziges Pünktchen auf dem smaragdgrünen Abhang. Nachdem sie über die niedrigen Dächer hinaus waren, breiteten die Himmel von Vaud, Valais, Savoyen und Genf sich als Zyklorama vor ihnen aus. Im Mittelpunkt des Sees, gekühlt von der Strömung der Rhône, lag das eigentliche Zentrum der westlichen Welt. Schwäne glitten wie Segelboote und Segelboote wie Schwäne darüber hin, verloren |228| im Nichts dieser herzlosen Schönheit. Es war ein heller Tag, und die Sonne glitzerte auf dem grasigen Ufer und den weißen Tennisplätzen des Kursaals. Schatten warfen die Gestalten da unten keine.
Als Chillon und das Schlösschen auf der Insel Salagnon in Sicht kamen, drehte Richard sich um und wandte seine Blicke dem Inneren zu. Die Bahn war jetzt über die höchsten Häuser am Ufer hinaus, und auf beiden Seiten von einem Gewirr von Blättern und Blüten umgeben, die immer neue Höhepunkte von Farbe erreichten. Die Gleise führten direkt durch einen Garten, und am Fensterbrett hing ein Schild mit der Aufschrift:
Défense de cueillir les fleurs.
Man durfte zwar während der Fahrt keine Blumen pflücken, aber das hinderte die Blütenzweige nicht, ins Wageninnere vorzudringen. Dorothy-Perkins-Rosen ließen ihre Ranken geduldig durch jedes Abteil schleifen und wedelten darin herum, bis sie schließlich zu ihren Büschen zurückschnellten. Immer neue Zweige drangen herein und zogen sich wieder zurück.
Die Engländer im oberen, vorderen Abteil der Bahn standen auf und stießen bewundernde Rufe wegen der Aussicht hervor. Dann gab es ein plötzliches Durcheinander: Die Gruppe teilte sich und ließ zwei junge Leute durch, die sich unter vielen Entschuldigungen ins untere Abteil schoben – Richards Abteil. Der junge Mann hatte Augen wie ein ausgestopftes Reh und war offenbar Italiener; die junge Frau war Nicole.
Die beiden jungen Leute keuchten etwas nach ihrer Klettertour, dann setzten sie sich lachend auf die Bank und drängten das englische Ehepaar in die Ecke. Nicole sagte: »Hal-lo!« Sie war ein zauberhafter Anblick. Dick sah sofort, dass sich etwas geändert hatte, und im nächsten Moment |229| wusste er auch, was es war: das fein gesponnene Haar, das jetzt à la Castle gestutzt und gelockt war. Sie trug einen weißen Tennisrock und einen taubenblauen Pullover – sie war so frisch wie ein Morgen im Mai und jede Spur der Klinik an ihr war getilgt.
»Plopp!«, japste sie. »Aaaach, dieser Schaffner! Bestimmt verhaften sie uns an der nächsten Haltestelle. Doktor Diver – das ist der Conte de Marmora.«
Sie betastete, immer noch keuchend, ihre neue Frisur. »A-a-a-ch, herrje! Meine Schwester hat natürlich wieder mal Erster-Klasse-Fahrkarten gekauft – das macht sie grundsätzlich.« Sie tauschte einen Blick mit Marmora und rief: »Und dann haben wir festgestellt, dass die Erste Klasse dieser Leichenwagen hinter dem Fahrer ist – ein geschlossenes Abteil mit Vorhängen, falls es mal regnet. Man sieht überhaupt nichts! Aber
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