Zaertlich ist die Nacht
dass sie verstanden hat.«
»Na, schön.«
»Das ist auch das Beste so. Sie scheint jedenfalls nicht übermäßig erregt – nur ein bisschen geistesabwesend.«
»Na, dann ist es ja gut.«
»Komm mich recht bald besuchen, Dick!«
8
In den nächsten Wochen litt Richard unter einer gewaltigen Unzufriedenheit. Der pathologische Ursprung und die mechanische Niederschlagung der Affäre hinterließen einen metallischen, schalen Geschmack. Nicoles Gefühle waren missbraucht worden – aber galt das nicht auch für seine eigenen? Offensichtlich musste er sich noch für eine Weile von der Seligkeit fernhalten, aber in manchen Träumen sah er sie auf den Wegen der Klinik mit ihrem breiten Sonnenhut in der Hand …
Einmal sah er sie sogar in Person. Als er am »Palast-Hotel« vorbeiging, bog gerade ein prächtiger Rolls-Royce in die Auffahrt ein. Getragen von hundert überflüssigen Pferdestärken und im Verhältnis sehr klein saß Nicole in seinem überdimensionierten Inneren, neben einer anderen jungen Frau, die wohl ihre Schwester war. Nicole erkannte ihn und ihre Lippen öffneten sich für eine Sekunde erschrocken. |225| Richard tippte an seinen Hut und ging vorbei, aber eine Sekunde lang schwirrten alle Kobolde und Gespenster des Grossmünsters um ihn herum. Er versuchte sich die Angelegenheit aus dem Kopf zu schreiben, indem er ein Memorandum verfasste, das äußerst detailliert den strengen Ablauf beschrieb, der ihr jetzt bevorstand; darin war viel von der Wahrscheinlichkeit neuer »Krankheitsschübe« die Rede, die von den unvermeidlichen Belastungen durch die Außenwelt ausgelöst werden könnten – und so wurde es insgesamt ein Memorandum, das gewiss jedermann überzeugt hätte, mit Ausnahme desjenigen, der es verfasst hatte.
Das Netto-Ergebnis dieser Bemühungen bestand darin, dass er sich erneut bewusst wurde, wie stark er emotional engagiert war; und deshalb griff er entschlossen zu Gegenmitteln. Eines davon war das Telefonfräulein aus Bar-sur-Aube, das gegenwärtig auf einer verzweifelten Europa-Tournee von Nizza nach Koblenz alle Männer abgraste, die es während seines unvergleichlichen Abenteuerurlaubs in Frankreich gekannt hatte; außerdem bemühte er sich darum, im August auf Regierungskosten nach Hause befördert zu werden; und schließlich intensivierte er seine Arbeit an den Fahnen seines Buchs, das im Herbst der deutschsprachigen Welt der Psychiatrie vorgestellt werden sollte.
In Wirklichkeit war er aus dem Buch schon herausgewachsen; er wollte jetzt Feldforschung machen, und wenn er ein Austauschstipendium erhielt, stand ihm viel praktische Arbeit bevor.
Tatsächlich hatte er bereits eine neue Arbeit in Angriff genommen, deren sonorer Titel auf Deutsch wahrhaft monumental wirkte:
›Versuch einer einheitlichen und pragmatischen Klassifizierung der Neurosen und Psychosen durch Beschreibung von fünfzehnhundert prä- und post-kraepelinschen
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Fällen in der diagnostischen Terminologie verschiedener heutiger Schulen, nebst einer Chronologie der davon abweichenden, unabhängigen Meinungen.‹
Als er nach Montreux hineinfuhr, trat Richard langsamer in die Pedale; wann immer er konnte, sah er zum Jugenhorn 1* hinauf und ließ sich vom Anblick des Sees blenden, der in den schmalen Gassen zwischen den Hotels am Ufer heraufglänzte. Er nahm Gruppen von Engländern wahr, die nach der vierjährigen Kriegspause zum ersten Mal wieder hier waren und mit den misstrauischen Blicken von Kriminalromanlesern umherschauten, als ob sie in diesem fragwürdigen Land jederzeit damit rechnen müssten, von bewaffneten, in Deutschland ausgebildeten Banden überfallen zu werden. Überall auf der von einem Gebirgsbach aufgeschütteten Geröllfläche erwachte das Leben; es wurde heftig gebaut. Auf seinem Weg nach Süden hatte man Richard schon in Bern und Lausanne begierig gefragt, ob dieses Jahr wohl Amerikaner in die Schweiz kommen würden. »Wenn schon nicht im Juni, dann vielleicht im August?«
Er trug kurze Lederhosen, ein Armeehemd und Bergschuhe. In seinem Tornister hatte er noch einen Anzug aus Baumwolle und Wäsche zum Wechseln. An der Standseilbahn 2* nach Glion gab er sein Fahrrad auf und trank ein kleines Bier auf der Terrasse des Bahnhofsrestaurants, während er zusah, wie der kleine, käfergleiche Waggon den achtzig Grad steilen Abhang herunterkroch. Sein Ohr war noch voller getrocknetem Blut von der Tour de Peilz, wo er einen wilden Sprint hingelegt hatte, weil er ein großer
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