Zaertlich ist die Nacht
anders als die North Side. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen.«
Er nickte. Mit einiger Anstrengung hatte er folgen können.
|235| »Natürlich haben wir viele Verbindungen da. Vater kontrolliert einige Stipendien und Lehrstühle an der Universität, und ich habe mir gedacht, wenn wir Nicole mit nach Hause nehmen und sie mit diesem Völkchen bekannt machen … Sie ist ja ziemlich musikalisch und spricht all diese Sprachen – und was könnte besser sein, ich meine, in ihrem Zustand, als wenn sie sich in so einen netten Doktor verliebt –«
Dick musste einen Ausbruch von Heiterkeit unterdrücken. Die Warrens wollten also Nicole einen Arzt kaufen. Haben Sie nicht einen netten Doktor, den wir mal benutzen dürfen? Man brauchte sich um Nicole bestimmt keine Sorgen zu machen, wenn sie in der Lage waren, ihr einen netten jungen Doktor zu kaufen, an dem die Farbe noch nicht mal getrocknet war.
»Aber wie sieht es denn für den Doktor aus?«
»Es gibt bestimmt viele, die sich so eine Chance nicht entgehen lassen.« Die Tänzer kehrten zurück, und Baby flüsterte hastig: »Also das ist so das, woran ich gedacht habe. Wo ist denn Nicole jetzt schon wieder hingerannt? Ist sie oben in ihrem Zimmer? Was soll ich bloß mit ihr machen? Ich weiß nie, ob es irgendwas Harmloses ist oder ob ich ihr nachlaufen muss.«
»Vielleicht will sie einfach bloß mal ein bisschen für sich sein. Leute, die lange allein gelebt haben, gewöhnen sich an das Alleinsein.« Als er merkte, dass Miss Warren ihm nicht mehr zuhörte, unterbrach er seine Ausführungen. »Ich werd mich mal umsehen.«
Draußen hatte es sich gerade zugezogen und der Frühling bestand aus geschlossenen Wolkenvorhängen. Alles Leben schien sich im Hotel versammelt zu haben. Richard kam an ein paar Souterrainfenstern vorbei und sah die Hilfskellner |236| und Pagen mit einer Flasche spanischem Wein auf ihren Stockbetten sitzen und Karten spielen. Aber als er sich der hufeisenförmigen Promenade näherte, begannen plötzlich die Sterne über den weißen Gipfeln der Alpen zu schimmern. Nicole war die reglose Gestalt, die zwischen zwei Laternen auf der Aussichtsplattform über dem See stand. Er näherte sich leise über den Rasen. Sie wandte sich zu ihm um, und ihr Gesichtsausdruck schien zu sagen: »Ach, da sind Sie ja.« Einen Moment lang bereute er, dass er gekommen war.
»Ihre Schwester war etwas besorgt.«
»Oh!« Sie war es gewohnt, dass sie kontrolliert wurde, und entschloss sich zu einer Erklärung: »Manchmal werde ich ein bisschen – es wird ein bisschen zu viel. Ich habe so still gelebt. Diese Musik heute Abend war einfach zu viel. Ich hätte beinahe geweint –«
»Ich verstehe.«
»Das war ein aufregender Tag heute.«
»Ich weiß.«
»Ich wollte nicht ungesellig sein. Ich habe den Leuten schon genug Ärger gemacht. Aber jetzt wollte ich mal für mich sein.«
So wie es einem Sterbenden vielleicht einfallen kann, dass er vergessen hat, jemandem zu sagen, wo sein Testament liegt, wurde Richard plötzlich bewusst, dass Nicole von Dohmler und seinen geisterhaften Vorläufern »umerzogen« worden war. Und dass man ihr so vieles würde erklären müssen.
Aber nachdem er diese Erkenntnis in seinem Inneren gespeichert hatte, gab er sich zunächst einmal der vordergründigen Situation hin. »Sie sind eine nette Person«, sagte er. »Vertrauen Sie, wenn es um Sie selbst geht, ruhig Ihrer eigenen Urteilskraft.«
|237| »Sie mögen mich?«
»Natürlich.«
»Würden Sie –« Sie schlenderten gemeinsam zum dunklen Ende des Hufeisens, das ungefähr zweihundert Meter vor ihnen lag. »Wenn ich nicht krank gewesen wäre, hätten Sie dann – Ich meine, wäre ich ein Mädchen gewesen, das Sie – ach, verflixt, Sie wissen schon, was ich meine.«
Jetzt musste er sich auf etwas gefasst machen und gegen seine eigene Unvernunft ankämpfen. Nicole war ihm so nahe, dass er spürte, wie sich seine Atemzüge veränderten, aber wieder kam ihm seine Schulung zugute. Er rettete sich in ein jungenhaftes Lachen und eine banale Geschichte. »Sie machen sich etwas vor, meine Liebe. Ich kannte mal einen Mann, der sich in seine Krankenschwester verliebt hat …« Die Geschichte rumpelte im Takt ihrer Schritte dahin.
Plötzlich unterbrach ihn Nicole mit einem prägnanten Chicagoer Ausdruck:
»Bullshit!«
»Das ist aber ein sehr unfeines Wort.«
»Na und?«, sagte sie aufbrausend. »Sie denken, ich hätte keinen Verstand. Ehe ich krank geworden bin, hab ich
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