Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
wenigen Monaten beherrschen Sie die Grundlagen dieses Geschäfts. Eine Glanzleistung.«
Sie ließ den Blick wieder auf den Geschäftsbericht sinken. Offenbar war ihr unbeabsichtigtes Nickerchen sehr kurz gewesen. »Danke, Watanabe-san.«
»Soll ich Ihnen einen Nachmittagsimbiss bestellen, oder möchten Sie lieber jetzt aufhören?«
Sie blätterte rasch durch die verbliebenen Seiten und seufzte. »Es werden noch einige Stunden intensiver Lektüre nötig sein, und ich fürchte, mir schwirrt schon jetzt der Kopf. Ich glaube, es ist klüger, für heute aufzuhören.«
»Aber …?«
Sie lächelte. »Aber gewisse Umstände erfordern meine Anwesenheit im Dōjō. Ich möchte nur ungern diese Woche noch einmal in die Stadt fahren müssen.«
»Haben diese Umstände mit Mr Murdoch zu tun?«
»Das wissen Sie doch.«
Er beugte sich über den Kirschholztisch und berührte leicht ihre Hand. »Und Sie wissen, dass ich das nicht gutheißen kann. Er ist gefährlich, und es macht mir Sorgen, dass Sie da draußen auf dem Land sind und nur von einem alten Mann beschützt werden.«
»Unsere Schüler sind ja auch noch da«, erwiderte sie.
»Trotzdem. Sie haben sich noch immer kaum von der Krankheit erholt, die Sie nach dem Tod Ihres Vaters hatten. Ich habe Sie damals gefunden, erinnern Sie sich? Einen Augenblick lang dachte ich, Sie seien tot.«
Ihre Bemühungen, die Wunden ihres Vaters zu heilen, hatten sie beinahe umgebracht. Gehetzt von den letzten keuchenden Atemzügen ihres Vaters hatte sie sich an einem alten und mächtigen Onmyōji-Heilzauber versucht. Die wirksame Formel hatte zwar seine Schmerzen gelindert und die verheerenden dämonischen Feuerbälle auf Distanz gehalten, aber sie hatte Kiyoko auch eine gewaltige Menge an eigener Energie gekostet. Unfähig zu akzeptieren, dass sie zu spät gekommen war, um ihn zu retten, ignorierte sie die warnende Stimme in ihrem Kopf und fuhr mit der Beschwörung fort, bis sie – ungeachtet der wachsenden Schwäche in ihren Gliedern – ganz heiser war.
Und dann war er doch gestorben.
Mit flachem Herzschlag und feuchtkalter Haut war sie im Parkhaus zusammengebrochen, direkt neben der geschwärzten Leiche ihres Vaters. Anschließend war Ryuji über sie beide gestolpert.
Kiyoko erwiderte Ryujis Händedruck.
»Ich erinnere mich. Danke.«
»Die drei Tage nach dem Angriff auf Ihren Vater waren die furchtbarsten meines Lebens«, gestand er. »Ihr großer Kummer hätte Sie uns fast genommen.«
Kein Kummer, sondern schwindende Lebenskraft. Sie wäre jetzt tot, wenn Sora nicht vorgeschlagen hätte, den Schleier als Heilmittel heranzuziehen, aber das brauchte Ryuji nicht zu wissen.
»Jetzt geht es mir ja wieder gut.« Sie entzog ihm sachte ihre Hand und stand auf. Ryuji war neunzehn Jahre älter als sie, doch den Altersunterschied bemerkte sie kaum. Er war nicht im Mindesten spießig, und die stille Erinnerung an ihren Vater verband sie mit ihm. Sie freute sich darüber. »Könnten Sie den Wagen für mich rufen? Ich würde gern nach Hause fahren.«
Er nickte. Dann nahm er den Telefonhörer ab und trug seiner Assistentin auf, den Wagen für Kiyoko bereitstellen zu lassen. Als er aufgelegt hatte, blickte er Kiyoko nachdenklich an.
»Bitte halten Sie mich nicht für dreist, Kiyoko-san, aber ich habe einen Vorschlag, der unseren Sorgen abhelfen könnte.«
Neugierig erwiderte Kiyoko: »Nur zu.«
»Die Technik erleichtert uns heutzutage das Leben ungemein. Ich könnte ohne jede Mühe mein Büro vorübergehend zum Dōjō verlegen und die Firma weiterführen, als säße ich hier. Sie könnten die Geschäftsberichte sichten, ohne in die Stadt fahren zu müssen, und ich hätte mehr Ruhe, wenn ich genau wüsste, wo sich Mr Murdoch wann befindet.«
Kiyoko verkniff sich ein Lächeln.
Murdoch ließ sich nicht so leicht einsperren, wie Ryuji glauben mochte. Aber es war trotzdem eine reizvolle Vorstellung.
»Ich würde natürlich mit den Schülern in den Unterkünften schlafen und nicht oben im Haus.«
»Das wird nicht nötig sein«, gab sie zurück. Sie nahm ihren Mantel und schlüpfte hinein. »Yamashita-senseis Hütte steht leer, seit er ins Haupthaus gezogen ist. Sie können dort schlafen.«
Er verbeugte sich. »Danke. Ich rufe zu Hause an und lasse meine Haushälterin das Nötigste zusammenpacken. Wenn Ihnen ein kleiner Umweg nichts ausmacht, um eine Tasche abzuholen, dann begleite ich Sie auf der Heimfahrt.«
»Es macht mir überhaupt nichts aus.«
Während sie den Gürtel ihres
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