Zärtlicher Hinterhalt
den Zahn fühlten.
»Wenn ich Sie das fragen darf – Seine Lordschaft sagt, Sie hätten Erfahrung mit älteren Damen.«
»Sechs Jahre lang habe ich mich um Lady Temperly gekümmert.«
»Und hat die Sie gemocht?«
»Wir haben einander respektiert, und sie war sehr freundlich zu mir. Sie hat mir ihr Haus hinterlassen, wo es mir dann möglich war, die Vornehme Akademie der Gouvernanten zu gründen. Ich werde Lady Temperly immer in liebender Erinnerung behalten.«
Eine weitere Minute musterte Mrs. Trenchard Hannah eindringlich, dann nickte sie. »Also hat der Herr wohl eine gute Wahl getroffen.« Sie geleitete Hannah zu einer dunklen, reich geschnitzten Tür. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Da hinein. Der Herr erwartet Sie im Gesellschaftszimmer. Manchen jagt er Angst ein – aber zu mir ist er nie unfreundlich gewesen, immer nur höflich. Sie werden sich bald an seine schroffe Art gewöhnt haben. Kopf hoch, und hören Sie mit dem Gezitter auf! Drinnen ist es warm.« Sie zog Hannah flugs die Decke weg und betrachtete sie von oben bis unten. Anscheinend fand sie kaum Grund zur Freude, denn sie flüsterte: »Keine Zeit mehr, was zu tun.« Sie öffnete die Tür und trat ein.
Hannah folgte ihr und verschaffte sich einen schnellen Überblick über den kleinen, komfortablen Raum. Im Kamin brannte ein Feuer. In den Vasen standen frische Blumen. Auf dem Tisch neben dem großen, mit grünem Brokat bezogenen Sessel lagen ein paar Bücher verstreut. Gemälde im neuesten Stil heiterten hell und zart die verputzten Wände auf. Ein Gentleman stand mit dem Rücken zu ihnen am Fenster und blickte durch das spiegelnde Fenster hinaus, wo sich nur schwarze Nacht und endloser Nebel zeigte. Er war groß gewachsen, breitschultrig und langbeinig, ausschließlich in Schwarz und Weiß gekleidet, die Hände hatte er auf den Rücken gelegt. Das schwarze Haar reichte ihm bis über den Kragen, und was seine Reaktion auf Mrs. Trenchard und Hannah anging, so schien er sie gar nicht bemerkt zu haben.
Selbstverständlich drehte er sich auch nicht um, als Mrs. Trenchard knickste und die Besucherin vorstellte: »Miss Hannah Setterington, Mylord!«
Er stand einfach reglos da, eine einsame Gestalt, die auf Was-auch-immer wartete. Dann befahl er mit tiefer, ruhiger Stimme: »Lassen Sie uns allein.«
Hannah hielt den Atem an.
Diese Stimme. Dieser Tonfall.
Ihr Herz tat einen heftigen Schlag. Und noch einen. Und noch einen. Einen für jede Sekunde, jede Hoffnung, jede Angst.
Von hinten sah er aus wie … und das Spiegelbild im Fenster wirkte irgendwie vertraut.
Aber sie wusste, wie leicht sie sich täuschte. Wenn sie
ihn
im Kopf hatte, dann sah jeder Mann aus wie er.
Und dennoch … und dennoch …
Vage bekam sie noch mit, wie die Tür sich schloss. Langsam drehte er sich zu ihr um.
Und die Vorahnung, die sie neun Jahre lang verfolgt hatte, war jähe Wirklichkeit.
Dieser Mann da hatte nie und nimmer seine Gattin getötet.
Denn dessen Frau hieß Hannah Setterington.
Kapitel 2
Dougald. Dougald Pippard. Nicht der Marquess of Raeburn. Sondern schlicht Mr. Dougald Pippard, ein reicher Liverpooler Geschäftsmann und Gentleman.
Er stand mit dem Rücken zum Fenster, und es gab keinen Zweifel mehr. Es musste sich um ihren Ehemann handeln, denn seine Augen blitzten triumphierend. Er war immer schon ein guter Beobachter gewesen, was menschliche Regungen betraf, und gerade eben registrierte er genau, wie sie sich zurückerinnerte und wie sie um Fassung rang.
Doch als sie wieder zu Luft gekommen war, sagte er nur: »Du bist zu spät.«
Zu spät. Ja. Neun Jahre zu spät zu der Verabredung mit dem Mann, den sie geheiratet hatte. Den sie allen Omen zum Trotz geheiratet hatte und erst, nachdem sie das erste Mal fortgelaufen war. Sie hatte den Zug genommen, er hatte sie erwischt und … »Du bist nicht der Earl of Raeburn!« Ihre Stimme klang, als gehöre sie einer anderen. Viel zu tief und viel zu gelassen, in Anbetracht der Umstände. »Das kann nicht sein.«
Seine Lippen, diese schmalen, konturierten Lippen, auf denen sie einst so gerne verweilt hatte, artikulierten langsam und präzise: »Ich versichere dir, ich bin es.«
»Aber …? Wie das?« Es fröstelte sie.
Er kniff die Augen zusammen. »Komm ans Feuer.«
Das brauchte er kein zweites Mal zu sagen. Ihr Instinkt mochte ihr zur Flucht raten, aber die Vernunft sagte ihr, dass er die Falle mit List und Tücke ersonnen hatte und sich über jede Gelegenheit freute, mit seiner fortgelaufenen
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