Zander, Judith
Normalerweise dreht
sich mir der Magen schon bei der Vorstellung um, Thema solcherart Konversation
zu sein, aber diesmal war ich das genaue Gegenteil von not amused, und was da
mein Herz so in Flatterei versetzte, war nur das mühsam unterdrückte Lachen,
der Triumph war einfach zu groß, um sich noch irgendeinen Kopp zu machen. Na
ja, konnte ich wenigstens mal was zur kollektiven Unterhaltung beitragen. Was
von mir ja auch nicht direkt erwartet wird. Aber das war eindeutig zu viel:
dass ausgerechnet unser hoher, und, nebenbei bemerkt, zum allgemeinen
Anschmachten auserkorener Besuch aus Irland, Paul Ishley, ausgerechnet neben
der in schulischen Belangen zwar ge-, ansonsten aber nicht weiter beachteten
und zudem im Verdacht der Streberei stehenden Schülerin Romy Plötz Platz zu
nehmen beliebte! Selbige war ja selber ganz verdattert für einen Moment. Bin
ich ehrlich gesagt immer noch. Dabei war das schon gestern, in Kunst. Viola kam
nicht, anscheinend krank, und ich freue mich schon, die Bank ganz für mich zu
haben und nicht Violas Kontrollblicken auf meine stümperhaften Zeichenversuche
ausgeliefert zu sein - wirklich, das ist wie bei diesen unerträglichen Leuten,
die anderen ständig auf den Teller und jeden Bissen in den Mund gucken und
dabei selbst das Essen vergessen, und schon plumpst einem die Kartoffel von der
Gabel, und Viola kriegt auch nie was auf ihr Blatt in der Stunde, und wenn sie
mal einen Strich zieht, radiert sie ihn sofort wieder weg, vielleicht aus
Angst, jemand könnte ihn bemerken, ich schwanke in der Benennung ihres Stiles
noch zwischen >magersüchtig<, >bulimisch< oder schlichtweg
>geizig< - jedenfalls, da sitzt er plötzlich neben mir, Paul. Wir haben
nur Kunst und Geo zusammen, weil sie ihn, in schicksalsimitatorischer Manier
einem Zu-schön-um-wahr-zu-Sein vorbeugend, selbstverständlich nicht in meine
Klasse gesteckt haben, und in Geo sitzt er so weit vor mir, dass ich nur seinen
Hinterkopf angucken kann, wie damals im Bus. Damals? Es ist grade mal
anderthalb Wochen her. Für die Zeit, die er hier weilt, wurde er in die a
einsortiert, natürlich, die blöde a kriegt wieder alles in den Rachen gestopft,
und mit der a ist das ja so: Entweder man ist in der a oder man schüttet
tiefste Verachtung über sie aus. Schon in der Unterstufe war a- oder-b eine
mindestens ebenso existenzielle Frage wie die, ob man Spinatesser oder
Grützwurstesser ist - ich habe Studien darüber angestellt und bin zu dem von
mir ohnehin vermuteten Ergebnis gekommen, wer Spinat mag, isst keine Grützwurst
und umgekehrt, obwohl beides ja ungefähr die gleiche Konsistenz aufweist,
weshalb ich überhaupt darauf verfiel; ich selber kann mir nichts
Verabscheuungswürdigeres als Grützwurst vorstellen. Ich würde Paul ja gern
fragen. Ja nur, um einen Verbündeten gegen die Grützwurst und einen weiteren
Beweis für meine Theorie zu finden. Inzwischen glaube ich sogar, es den Leuten
ansehen zu können, und Paul sieht mir ganz nach einem Spinatliebhaber aus. Aber
er würde wohl nicht so recht die strengen Bedingungen meiner Studie erfüllen,
die ja voraussetzt, dass beide Gerichte dem Probanden bekannt sind, und ich
könnte Paul wohl nur dazu beglückwünschen, dass ihm der Anblick - ach, wenns
nur das wäre - von Grützwurst bisher erspart geblieben sei, und es würde ja
unweigerlich zu einer Verfälschung der Ergebnisse führen, wenn ich eine
Entscheidung aufgrund meiner Beschreibung von Grützwurst von ihm verlangte,
denn wer würde sich dabei nicht, schon halb von einem Brechanfall dritten
Grades geschüttelt, sofort und für immer dagegen entscheiden? Oder, sei
ehrlich, Romy, ist es nur, um nicht letztlich doch noch etwas gegen den
desiderierten Liebhaber - des Spinats - in der Minusspalte auflisten zu
müssen? Als ob das noch viel nützte. Vielleicht nützte es.
Er hat einfach gesagt: »Dieser
Platz ist frei heute, oder?«, und mich angegrinst, und ich hätte am liebsten
gesagt: Dieser Platz ist immer frei. Aber die Wahrheit klingt manchmal einfach
zu sehr nach NDR-1-Schnulze.
Die Stunde war natürlich
gelaufen. Die anderen waren, bis auf ein paar, die das auch nicht mehr als der
Unterricht kratzte, noch zu sehr mit dem Wunder beschäftigt, und ich - wohl
auch. Bloß Pauls Aufmerksamkeit für Frau Kümmel schien nicht getrübt, obschon
nicht ersichtlich war, ob sie die wirklich durch ihren näselnden Vortrag
absorbierte oder nicht vielmehr durch ihren Pullover mit dem extra tiefen
Ausschnitt. In der Abizeitung vom
Weitere Kostenlose Bücher