Zander, Judith
letzten Jahr wurde sie als »Miss Nabelschau«
tituliert, und das trifft es, nicht nur, weil das in Deutsch eine ihrer aufgeschnappten
Lieblingsschmähvokabeln für Literatur ist. Meine Plus/Minus-Liste blinkte
wieder kurz auf, allerdings zu kurz, um irgendetwas eintragen zu können.
Wir redeten nicht viel, mir
fiel auch gar nichts ein. Jedenfalls nichts, was für ein abgehacktes
Flüstergespräch getaugt hätte. Paul war bloß im T-Shirt, während ich fröstelte,
und sein Arm hing so dicht neben meinem, dass ich förmlich seine Wärme
absaugte, von seinem Wohlgeruch ganz zu schweigen. Das haut mich sowieso
jedesmal um. Es war komisch, aber ich hatte auf einmal fast so was wie ein
schlechtes Gewissen. Als würde ich irgendwas Verbotenes, zumindest nicht ganz Koscheres
tun. Ich meine, ich sitze da neben einem, der sich arg- und ahnungslos in meine
Nähe begeben hat, und hege Gedanken über ihn und wärme mich an ihm und rieche
ihn. Gerne. Ich ekelte mich fast ein bisschen vor mir. Als hätte ich mich in so
eine altjüngferliche Schlüssellochguckerin verwandelt, einen alten Knacker, der
sich im Gedränge an jungen Mädchen reibt.
Ich fragte mich plötzlich, ob
ich auch rieche. Und wie. Für ihn.
Zeichnen ging dann auch nicht
mehr. Wir sollten zwar noch die letzte Viertelstunde damit ausfüllen, aber von
einem Füllen des Blattes konnte bei mir keine Rede sein. Im Prinzip war es wie
mit Viola. Nur, dass ich auch gleichzeitig Viola war. Ich fühlte mich wieder
mal beobachtet und brachte aus Angst vor totaler Unfähigkeit keinen Strich
zustande, obwohl Paul mich ja gar nicht beobachtete, sondern ich ihn, ich
musste immer wieder hinsehen, zusehen, was da unter seinen Händen entstand. Und
es war seine eigene Hand, die er zeichnete, unverkennbar. Er kann das
unglaublich gut, so wie Ella. Er hat neulich ihre Zeichnungen bemerkt, und Ella
war erst ein bisschen embarrassed, hat sich dann aber doch eine halbe Stunde
oder so mit ihm darüber unterhalten, während ich dagesessen und sinnlos
Schokorosinen in mich reingestopft habe.
Ich habe mich in Chemie neben
sie gesetzt. Frau Pufesiel hat zwar erst ein bisschen geguckt, aber nichts
dagegen gesagt, wahrscheinlich hofft sie, dass Ella sich mit meiner Hilfe doch
noch auf eine Drei hieven kann und meine Anwesenheit sie von allzu ungestörtem
Dösen abhalten wird. Ich lasse sie die Experimente machen, was einerseits ganz
schön uneigennützig von mir ist, denn das ist der Teil, den eigentlich ich
gerne übernommen hätte, dieses Rumpanschen mit den ganzen bunten, stinkenden
Sachen. Andererseits ist es auch zu meinem Vorteil, denn ich könnte unmöglich
Ella die Berechnungen und die Schreibarbeit überlassen, ohne zu riskieren, dass
für uns beide innerhalb kürzester Zeit acht Punkte auf dem Zeugnis zu einem
hoffnungslosen Unterfangen würden. Es juckt sie einfach nicht. Aber ich
glaube, sie strengt sich jetzt ein bisschen an. Mir zuliebe. Und ich komme
nicht mehr dazu, meine Blattränder mit Krakelgebilden, schiefen Sternen und
Songzeilen zu verunzieren. Und bin auch nicht mehr Psycho-Svens Blickpfeilen
ausgeliefert, mit denen er jetzt höchstens noch meinen Rücken harpunieren
kann. Die ich aber abfange, weil ich mich ab und zu, unberechenbar und
torpedoschnell, zu ihm umdrehe. Womit ich ihn schon zweimal zum Rotwerden
brachte. Und Ella sagte zu mir: »Der gafft einen immer an, ne!«
»Dich auch?«
Da mussten wir beide lachen,
was einen ersten strengen Blick von Frau Pufesiel provozierte. Seitdem ist sie
misstrauisch: Sollten wir uns etwa doch aus Gründen der Sympathie und nicht
nur aus solchen der solidarischen Hilfeleistung zusammengesetzt haben? Na, da
kann sie ganz beruhigt sein: Wir helfen uns äußerst solidarisch, nämlich über
ihren Unterricht hinweg. Als Ella neulich so von unten zu Frau Pufesiel auf
ihrem Podest hochäugte und ihre übliche überdimensionale rote Haarschleife
fixierte, um dann folgenden Kommentar loszulassen: »Also, wie mein Vater sagen
würde: >von hinten Lyzeum, von vorne Museum<«, versetzte uns das derartig
in Heiterkeit, dass Frau Pufesiel sich gezwungen sah, ihr nicht gerade leicht
zu ignorierendes Hinterteil herumzumanövrieren und Ella des Unterrichts zu
verweisen, womit sie natürlich in jeder Hinsicht die Falsche traf. Nicht nur,
dass ich viel lauter gelacht hatte als Ella, auch die Strafe, war ich mir
sicher, würde sie eher als Belohnung auffassen. Und ich musste sofort an good
old Edgar Wibeau denken: K ein A as von L ehrer
traute
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