Zauber der Vergangenheit
schwungvoll um eine Ecke, als ich mit einem Mann zusammenstieß, der die ganze Zeit auf seinem Smartphone herum drückte. Meine Tasche fiel auf den Boden und der gesamte Inhalt verteilte sich kunstvoll auf den Treppenstufen zur Underground Station. Aber anstatt mir zu helfen, lief der Typ einfach weiter. Fluchend sammelte ich meinen Kram ein und dabei fiel mir auf, dass ausgerechnet meine Arbeit über Die Bedeutung der Frauenfiguren in Shakespeares Werk nicht dabei war. Professor Miller konnte richtig gemein werden, wenn man zu spät in sein Seminar platzte. Aber noch schlimmer war es, ohne Hausarbeit zu erscheinen. Ich überlegte, ob ich einfach sagen sollte, unsere Wirtschafterin hätte meine Arbeit aufgefressen – einen Hund hatten wir leider nicht. Die Vorstellung ließ mich kurz schmunzeln. Aber immerhin war ich die ganzen letzten Abende mit der Arbeit beschäftigt gewesen. Ich warf einen verzweifelten Blick auf meine Armbanduhr. So schnell ich konnte, lief ich zurück zu unserer Wohnung am Prince‘s Square. Eilig steuerte ich auf das schmale, hohe Altbauhaus mit der weißen Fassade und den zwei Säulen neben dem Eingang zu. Ich klingelte Sturm, doch Mrs Laurence schien noch nicht da zu sein. Hektisch wühlte ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich ihn. Ich hatte gerade die Tür aufgeschlossen und wollte eben die steilen Stufen hoch zu meinem Zimmer im Sprint nehmen, als mich der Postbote aufhielt. Er stand plötzlich hinter mir an der Haustür.
»Miss Macrae? Wie gut, dass ich Sie antreffe. Ich habe ein persönliches Einschreiben für Sie.«
»Oh!«, wunderte ich mich. »Ich erwarte eigentlich keinen Brief.«
Wer sollte mir denn ein Einschreiben zuschicken?
»Moment, das haben wir gleich«, sagte er lächelnd und begann seine große Posttasche zu durchsuchen.
Das fehlte mir gerade noch, wo doch jede Minute zählte. Unruhig trat ich von einem Bein auf das andere, während ich wartete, bis der Postbote umständlich den Brief hervorgekramt hatte. Er hielt mir einen Stift entgegen. »Hier müssen Sie bitte den Empfang quittieren.«
Ich unterschrieb und betrachtete den Brief. Der Absender war eine Londoner Anwaltskanzlei. Der Name der Kanzlei sagte mir nichts. Doch auch wenn ich neugierig war, was Ian A. Campbell und Partner von mir wollten, musste der Brief vorerst warten. Ich steckte ihn hastig in meine Tasche und lief eilig die Treppenstufen hinauf.
Natürlich kam ich viel zu spät zum Seminar und Professor Miller ließ es sich nicht nehmen, mich vor dem gesamten Kurs bloßzustellen.
»Ah, Miss Macrae, wie schön, dass Sie uns heute doch noch die Ehre erweisen. Da Sie es ja anscheinend nicht nötig haben, am gesamten Unterricht teilzunehmen, können Sie sicher – auch ohne meinen vorherigen Ausführungen gelauscht zu haben – das an der Tafel stehende Sonett interpretieren.«
Ich nickte verschüchtert und wollte auf meinem Platz zusteuern.
»Aber nein, Miss Macrae, kommen Sie nach vorne. Hier haben Sie einen viel besseren Überblick und wir alle können Sie gut hören.« Dabei wies er mit einem leichten Grinsen im Gesicht auf den freien Platz vor der Tafel.
Mit hochrotem Kopf bahnte ich mir meinen Weg durch die Stuhlreihen. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, doch ich schlug mich tapfer. Lara lächelte mir aus einer der hinteren Reihen aufmunternd zu.
Professor Miller nickte nach meinen Ausführungen bedächtig und gab sich großzügig: »Na, gar nicht mal so schlecht. Da will ich Ihnen die Störung meines Unterrichts dieses Mal verzeihen.«
Ich schluckte eine passende Antwort hinunter und schlich zu meinem Platz.
Nach dem Kurs musste Lara noch etwas erledigen und so verabredeten wir uns für später zum Lunch in einem kleinen Studentencafé unweit des Campus.
Als ich mit etwas Verspätung eintraf saß sie bereits an unserem Lieblingsplatz am Fenster und studierte beim Essen ausgiebig die Veranstaltungstipps fürs Wochenende. Als sie mich näherkommen sah, winkte sie mir aufgeregt zu. »Caitlin, du glaubst es nicht! The Pleasures kommen nach London und geben nächsten Samstag ein Konzert im Black Heart !« Laras blaue Augen blitzten vor Freude, und sie begann die ersten Takte von ihrem Lieblingssong I know but I don‘t know zu summen.
Ich setzte mich zu ihr. »Das ist großartig! Kannst du uns Karten besorgen?«, strahlte ich sie an. »Allerdings ist es schon etwas kurzfristig«, gab ich dann zu bedenken.
»Na klar, das ist so gut, wie
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