Zauberkusse
mit wenig Haaren in Jeans und weißem Hemd auftaucht, uns einen »Guten Morgen« wünscht und die Türe aufschließt. Gehorsam trotten wir in den Klassenraum und lassen uns an den Zweiertischen nieder. Ich setze mich nach ganz hinten ans Fenster und starre hinaus, während der Mann, der sich als Herr Clausen vorstellt, seinen Vortrag beginnt.
Am Nachmittag bin ich so schlau wie vorher. Das macht aber nichts, denn ich war schon ziemlich schlau. Zumindest was die Gastronomiegesetze angeht. Statt mir Dinge anzuhören, die ich sowieso schon wusste, habe ich die Stunden genutzt, um einigermaßen Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bringen. Zunächst mal habe ich beschlossen, Michael Lange nicht anzurufen. Obwohl er mich vor einem sicheren Strafzettel bewahrt hat. Und vor einem Punkt in Flensburg. Und vor dem Hungertod. Und obwohl er ja eigentlich schon echt ganz süß ist. Ich beschließe aber, dass mein geschundenes Herz eine Ruhepause braucht. Dass ich mich auf mich selbst und meine Karrierepläne konzentrieren sollte. Dass es viel zu früh ist, einen neuen Mann in mein Leben zu lassen. Wo ich den anderen doch noch nicht einmal wirklich los bin. Und da bin ich auch schon bei meinem Hauptproblem. Hat Loretta möglicherweise recht? Ist mir jedes Mittel recht, um Gregor wieder zurück in mein Leben zu holen? Und warum bin ich so scharf drauf, ihn gemeinsam mit Anna des Seitensprungs zu überführen? Will ich mich rächen? Oder habe ich, ganz tief in meinem Unterbewusstsein, tatsächlich den Wunsch, ihn zurückzubekommen? Egal wie? Würde ich wirklich die Reste von ihm aufkratzen, nachdem Anna ihn rausgeworfen hat? Ich weiß es nicht. Eine leise Stimme in mir beschwört mich, die Finger von der ganzen Sache zu lassen.
Dennoch bitte ich Loretta am nächsten Morgen, mir ihren Wagen zu leihen. Wie Frau Kinkel gesagt hat, ein Auto wie meins gibt es in Hamburg nicht noch mal. Weshalb es für eine Verfolgungsjagd denkbar ungeeignet ist.
»Wieso? Ist deins kaputt?« »In der Werkstatt. Das Bremslicht muss doch ausgetauscht werden«, lüge ich und sie sieht mich misstrauisch an.
»Was ist denn das für eine Werkstatt? Das können die dir doch an der Tankstelle in zwei Minuten auswechseln«, meint sie zweifelnd, gibt mir dann aber doch ihren Autoschlüssel. »Aber um spätestens halb sechs brauche ich ihn wieder. Heute Abend will ich endlich mal wieder zum Yoga.« Ich verspreche ihr, den Wagen bis dahin wieder im Parkhaus ihrer Kanzlei abzustellen und fahre dann hinaus nach Halstenbek, wo ich Anna in der wenige Straßen von ihrer Siedlung entfernten Bäckerei abhole. Kaum hat sie mich gesehen, erhebt sie sich und kommt heraus, in der Hand zwei Pappbecher mit Kaffee.
»Hier«, meint sie beim Einsteigen und hält mir einen davon hin.
»Danke«, sage ich erstaunt und fahre los.
»Gregor ist noch zu Hause«, informiert Anna mich mit angespanntem Gesichtsausdruck. »Ich habe eben noch mal mit ihm telefoniert.«
»Okay.«
Zwei Minuten später parke ich Lorettas Wagen hinter derselben Hecke, von der aus ich vor einiger Zeit schon einmal das Haus der Landahls beobachtet habe. Schweigend sitzen wir nebeneinander und nippen an unserem Kaffee.
»Fehlen nur noch die Doughnuts«, versuche ich mit einem kleinen Scherz die Stimmung aufzulockern, aber leider kapiert Anna ihn nicht. Anscheinend guckt sie nicht so leidenschaftlich gerne US-Polizeiserien wie ich. Ist auch egal. Verstohlen betrachte ich sie von der Seite und muss zugeben, dass sie wirklich eine hübsche Frau ist. Gerade will ich deswegen Komplexe bekommen, als mir einfällt, dass mir von allen Seiten bestätigt wurde, wie ähnlich wir uns sehen.
»Da ist er«, ruft sie plötzlich und vor lauter Schreck fällt mir beinahe der Kaffeebecher aus der Hand. Tatsächlich, da ist er. Gebannt beobachte ich, wie Gregor die Haustür hinter sich ins Schloss zieht und zu seinem schwarzen BMW geht. Eine wahre Gefühlswelle bricht über mich herein. Es kommt mir vor, als hätte ich ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und doch ist er mir so vertraut. Obwohl wir gut und gerne zehn Meter von ihm entfernt parken, sehe ich sein Gesicht deutlich vor mir. So deutlich, als würde er direkt neben mir im Bett liegen. Ich sehe die fächerförmigen, nach oben gerichteten Fältchen um seine Augen herum, den Leberfleck neben dem rechten Mundwinkel, die winzige abgeschlagene Ecke am Schneidezahn. Und plötzlich bilde ich mir sogar ein, seinen Geruch wahrzunehmen.
»Hier, setz das auf«,
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