Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
wichen von der Reling der Viviace und dem Vordeck zurück und drängten sich aneinander. Aus ihren fragenden Schreien schloss Wintrow, dass nur wenige wussten, was ein Zauberschiff eigentlich war.
Plötzlich löste sich eine Frau aus der Gruppe der Piraten. Sie rannte über das Deck und stürmte auf das Vordeck. Wintrow hatte noch nie eine Frau wie sie gesehen. Sie war groß und schlank, und ihr Haar war kurzgeschoren. Der prächtige Stoff ihres Rocks und ihr weites Hemd klebten nass an ihrem Körper, als hätte sie die ganze Nacht an Deck Wache gestanden. Im Nu war sie bei Wintrow »Komm herunter«, sagte sie; aber nicht die Worte, sondern ihr Blick machten es zu einem Befehl. »Komm sofort zu ihm herunter. Lass ihn nicht warten.«
Er antwortete nicht. Stattdessen sprach er mit dem Schiff.
»Keine Angst«, sagte er zu Viviace.
» Wir brauchen keine Angst zu haben«, antwortete Viviace.
Wintrow sah befriedigt, wie das Gesicht der Frau vor Staunen ausdruckslos wurde. Es war eine Sache, ein Lebensschiff sprechen zu hören, aber eine andere, das Funkeln in ihren Augen zu sehen. Wütend musterte sie die Frau auf ihrem Deck.
Plötzlich schüttelte sich Viviace mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes ihre geschnitzten Locken aus dem Gesicht. Es war eine typisch weibliche Geste, eine Herausforderung von einer Frau an die andere. Die Piratin wischte sich die schwarzen Haare aus der Stirn und erwiderte den Blick der Gallonsfigur.
Einen Augenblick lang schockierte es Wintrow, dass die beiden so unterschiedlich aussehen und gleichzeitig so ähnlich sein konnten.
Er wartete nicht länger. Leichtfüßig sprang er vom Vordeck auf das Mittschiff. Mit erhobenem Kopf schritt er den Piraten entgegen. Er würdigte Sa’Adar keines Blickes. Je mehr er von dem Mann sah, desto weniger hielt er von ihm als Priester.
Der Piratenkapitän war ein großer, muskulöser Mann.
Dunkle Augen glitzerten über der ausgebrannten Narbe auf seiner Wange. Also war er selbst ebenfalls ein ehemaliger Sklave. Sein wirres Haar war zu einem Zopf gebunden und wurde von einem goldfarbenen Halstuch zusammengehalten.
Wie die der Frau war auch seine prächtige Kleidung durchnässt. Ein Mann, der also selbst auf Deck arbeitet, dachte Wintrow, was ihm widerwilligen Respekt abnötigte.
Er erwiderte unerschrocken den Blick des Mannes. »Ich bin Wintrow Vestrit, von der Bingtown-Händlersippe der Vestrits.
Ihr steht auf dem Deck des Lebensschiffes Viviace , das ebenfalls der Vestrit-Sippe gehört.«
Doch der blasse, große Mann neben dem narbenübersäten Riesen antwortete ihm. »Ich bin Kapitän Kennit. Du sprichst mit meinem hochgeschätzten Ersten Maat Sorcor. Und das Schiff, das einst dir gehörte, ist jetzt mein.«
Wintrow betrachtete ihn von Kopf bis Fuß, wortlos vor Schreck. Obwohl seine Nase von dem Gestank der Menschen abgestumpft war, nahm er doch den siechen Geruch dieses Mannes wahr. Er blickte auf die Stelle, an der Kennits Bein aufhörte, bemerkte die Krücke, auf die er sich stützte, und den stark angeschwollenen Stumpf. Als er dem Blick von Kennits hellblauen Augen begegnete, bemerkte er, wie groß und fiebrig sie wirkten, sah, wie sehr die Haut sich um den Schädel des Piraten spannte. Als Wintrow antwortete, redete er freundlich, wie zu einem Sterbenden. »Dieses Schiff kann niemals Euch gehören. Sie ist ein Zauberschiff. Sie kann nur der Vestrit-Familie gehören.«
Kennit deutete mit der Hand auf Kyle. »Dennoch behauptet dieser Mann, er wäre ihr Besitzer.«
Wintrows Vater stand immer noch auf den Beinen und er hielt sich beinahe gerade. Außerdem ließ er sich weder Furcht noch Schmerz anmerken. Er wartete.
Kyle sagte kein einziges Wort zu seinem Sohn.
Wintrow formulierte seine Worte sehr vorsichtig. »Er ›besitzt‹ sie, ja, in dem Sinn, in dem man ein Ding besitzen kann. Aber sie gehört mir. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, sie zu besitzen, genauso wenig wie ein Vater einen Anspruch auf sein eigenes Kind erheben kann.«
Kapitän Kennit musterte ihn verächtlich. »Du scheinst noch ein wenig jung, um ein Kind dein eigen nennen zu wollen, Bürschchen. Und nach dem Mal auf deinem Gesicht zu urteilen, würde ich sagen, gehörst du wohl eher dem Schiff. Ich nehme an, dass dein Vater also in eine Händlerfamilie eingeheiratet hat und du dieser Blutlinie entstammst?«
»Ich bin ein Vestrit der Abstammung nach, ja.«
Wintrow bemühte sich, gelassen zu klingen. »Aha.«
Erneut deutete der Pirat auf Kyle. »Dann brauchen
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