Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
wie furchtbar das alles ist. Aber er schildert diese Geschichten mit einer derart obszönen Freude, als würde sich in ihm ein grausamer und gewalttätiger Mann verbergen, der genießt, wozu er fähig ist. Ich weiß nicht, woher all diese Grausamkeiten kommen.« Sie wandte den Blick von Amber ab und fügte ruhig hinzu: »Und es gefällt mir nicht, wie viel Zeit er mit Lavoy verbringt.«
»Richtiger wäre es zu sagen, wie viel Zeit Lavoy mit ihm verbringt. Paragon kann den Maat ja wohl kaum aufsuchen.
Der Mann geht zu ihm, Althea. Und es stimmt, Lavoy fördert die schlimmsten Seiten von Paragon zutage. Er bestärkt ihn in seinen gewalttätigen Fantasien. Sie wetteifern geradezu darum, sich solche Dinge zu erzählen, als wenn es ein Maßstab für Männlichkeit wäre, wie viele Grausamkeiten jemand mit angesehen hat.« Ambers Stimme klang nervös. »Ich fürchte, er verfolgt dabei seine eigenen Ziele.«
Althea fühlte sich unbehaglich. Plötzlich schwante ihr, dass sie es noch bedauern würde, das Gespräch in diese Richtung gelenkt zu haben. »Daran kann man wenig ändern.«
»Ach nein?« Amber warf ihr einen Seitenblick zu. »Brashen könnte es verbieten.«
Althea schüttelte bedauernd den Kopf. »Nicht, ohne Lavoys Autorität über das Schiff zu schwächen. Die Männer würden es als einen Tadel ansehen und…«
»Sollen sie doch! Meiner Erfahrung nach fährt man am besten damit, wenn man sich eines Mannes sofort entledigt, der andere kommandiert und dabei immer schlimmer wird. Denk nach, Althea. Das Schiff ist nicht besonders raffiniert. Paragon sagt, was er denkt. Die Seeleute sind da klüger. Aber wenn Lavoy das Schiff nach seinem Gutdünken manipuliert, glaubst du dann etwa, dass er es nicht auch bei der Mannschaft tut, vor allem bei den Tätowierten? Lavoy hat bereits jetzt viel zu viel Einfluss auf sie. Sie sind in gewisser Weise wie Paragon. Sie wurden vom Leben verroht, und diese Erfahrung befähigt sie zu kalter Grausamkeit. Genau darauf setzt Lavoy. Sieh nur, wie er die Mannschaft aufstachelt, Lop zu verhöhnen und zu quälen.« Sie sah aufs Meer hinaus. »Lavoy ist eine Gefahr. Wir sollten ihn loswerden.«
»Aber Lavoy…«, begann Althea. Doch Amber unterbrach sie, indem sie aufsprang.
»Schiff in Sicht!«, schrie sie und streckte den Arm aus. Auf dem Deck unter ihr nahm der zweite Wachmann den Ruf auf und deutete in dieselbe Richtung wie sie, damit der Rudergänger es sehen konnte. Jetzt erkannte Althea es ebenfalls. Es war ein Mast, der sich hinter einer Baumreihe auf einer Landzunge bewegte. Er befand sich etwa dort, wo Amber ihn schon zuvor vermutet hatte. Das Schiff hatte wahrscheinlich im Hinterhalt gelegen und mit seinem Angriff gewartet, bis der Paragon näher kam.
»Piraten!«, bestätigte Althea Ambers Ruf. »PIRATEN!«, brüllte sie dann hinab, um die Mannschaft zu alarmieren. Auf dem anderen Schiff wurde plötzlich eine Flagge gehisst, als wüssten sie, dass sie entdeckt worden waren. Es war eine rote Fahne mit irgendetwas Schwarzem darauf. Althea zählte sechs kleinere Boote, die von dem anderen Schiff zu Wasser gelassen wurden. Also das war ihre Taktik: Die kleinen Boote würden den Paragon verfolgen und ihn entern, wenn sie konnten, während das größere Schiff versuchte, ihn in die Untiefen vor ihnen zu treiben. Altheas Herz hämmerte heftig in ihrer Brust.
Sie hatten darüber gesprochen, sich darauf vorbereitet, aber trotzdem schockierte es sie irgendwie. Einen Augenblick nahm ihre Furcht ihr den Atem. Die Männer in diesen Booten würden alles versuchen, um sie zu töten. Sie rang nach Luft, schloss kurz die Augen und riss sie dann weit auf. Ihr blieb keine Zeit, um ihr Leben zu bangen. Das Schiff verließ sich auf sie.
Brashen war bereits nach dem ersten Schrei an Deck erschienen. »Setzt mehr Segel!«, schrie Althea zu ihm hinunter. »Sie versuchen uns im Rudel zu jagen, aber wir sind schneller. Es sind sechs Gigs und ein Mutterschiff. Aber Vorsicht! Vor uns liegen Untiefen!« Sie drehte sich zu Amber um. »Geh hinunter zu Paragon. Sag ihm, dass er uns dabei helfen muss, ihn so gut wie möglich in der Fahrrinne zu halten. Wenn die Piraten uns näher kommen, dann bewaffne ihn. Er kann dabei helfen, ein kleineres Boot zurückzuschlagen. Ich halte hier Wache. Der Kapitän hat das Kommando an Deck.«
Amber hetzte über die Wanten, als hätte sie das schon ihr ganzes Leben gemacht. Als der Paragon parallel zur Landzunge segelte, versuchten die kleineren Boote, ihn abzufangen.
Weitere Kostenlose Bücher