Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
Reyn. »Ich halte das nicht für klug, Selden.
Du bist in einer besonderen Lage. Du könntest der letzte Erbe Eures Familiennamens sein. Du solltest dein Leben nicht riskieren.«
»Das Risiko wäre größer, wenn ich mich hier verstecke und nichts tue«, entgegnete Selden verbittert. »Reyn, bitte. Meine Mutter und Großmutter meinen es ja gut mit mir, aber sie machen mich… sehr jung. Wie soll ich lernen, mich wie ein Mann zu benehmen, wenn ich niemals unter Männer komme? Ich muss heute mit euch gehen.«
»Selden, wenn du mit uns gehst, wirst du vielleicht niemals ein Mann werden«, warnte ihn Grag. »Bleibe hier. Beschütze deine Mutter und deine Großmutter. So kannst du Bingtown am besten dienen. Außerdem ist es deine Pflicht.«
»Behandle mich nicht so herablassend«, erwiderte der Junge scharf. »Wenn die Kämpfe dieses Haus erreichen, werden wir alle abgeschlachtet. Ich gehe mit euch. Ich weiß, dass ihr glaubt, dass ich euch im Weg stehe und dass ihr mich beschützen müsst. Aber so wird es nicht sein. Das verspreche ich euch.«
Grag wollte widersprechen, aber Reyn erklärte: »Gehen wir in die Küche und reden da weiter. Ich könnte etwas Kaffee vertragen.«
»Ihr werdet keinen bekommen«, erklärte Grag verdrießlich.
»Aber es ist noch Tee da.«
Offensichtlich waren sie nicht die Einzigen, die keinen Schlaf fanden. Das Feuer im Herd war bereits angefacht worden, und ein großer Kessel mit Haferbrei blubberte vor sich hin. Nicht nur Grags Mutter und seine Schwestern, sondern auch die Vestrit-Frauen eilten geschäftig in dem großen Raum hin und her und taten, als kochten sie. Es war nicht genug zu tun, um sie alle zu beschäftigen. Aus dem Esszimmer drangen leise Stimmen. Als das Essen fertig war, wurden Tabletts auf den Tisch gestellt. Ekke Kelter war ebenfalls bereits auf den Beinen. Sie lächelte Grag Tenira herzlich an, während sie ihm eine Tasse Tee einschenkte. Dann setzte sie sich ihm gegenüber an den Tisch und erklärte sachlich: »Die Brandleger sind schon weg. Sie wollten auf jeden Fall vor dem Angriff an Ort und Stelle sein.«
Reyn spürte einen Stich. Es war also real. Rauch und Flammen im Lagerhaus der Drur-Familie waren das Zeichen für die wartenden Angreifer. Mutige Spione, fast alles Sklavenjungen, hatten herausgefunden, dass die Chalcedeaner den größten Teil ihrer Beute hier gelagert hatten. Sicher würden sie kommen, um das Feuer zu löschen. Bingtown würde die gestohlenen Güter der Chalcedeaner anzünden, um ihre Feinde an einem Ort zu versammeln. Sobald das Feuer brannte, wollten sie versuchen, die Schiffe der Invasoren mit Brandpfeilen anzuzünden. Eine Gruppe von Drei-Schiffen-Männern würde zu den Schiffen hinausschwimmen und einige Anker kappen.
Die verschiedenen Bingtowner Gruppen hatten diese Ablenkungsmanöver sorgfältig geplant. Jeder Mann hatte sich so gut bewaffnet, wie er konnte. Uralte Familienschwerter würden neben Knüppeln und Schlachtermessern geschwungen werden, neben Fischerhaken und Sicheln. Händler und Fischer, Gärtner und Küchensklaven würden heute alle ihre Werkzeuge gegen die Eindringlinge ins Feld führen. Reyn schloss einen Moment die Augen. Es war schon schlimm genug, dass sie sterben mussten, aber war es nötig, dass sie so armselig ausgerüstet in den Tod gingen? Er goss sich noch einen heißen Tee ein und wünschte den grimmigen Saboteuren alles Gute, die jetzt heimlich durch die kalte und regnerische Nacht schlichen.
Selden saß neben ihm. Plötzlich umklammerte er fest Reyns Handgelenk unter dem Tisch. Als er den Jungen fragend ansah, lächelte dieser grimmig. »Ich fühle sie«, sagte er leise. »Du nicht?«
»Es ist ganz natürlich, Angst zu haben«, tröstete er den Jungen ruhig. Selden schüttelte jedoch nur den Kopf und ließ Reyns Handgelenk los. Reyn war entmutigt. Maltas kleiner Bruder hatte in letzter Zeit für einen Jungen seines Alters zu viel mitmachen müssen. Es hatte offenbar seinen Verstand getrübt.
Ronica Vestrit stellte frisches Brot auf den Tisch. Die alte Frau hatte ihr graues Haar zu einem Zopf geflochten. Als er ihr dankte, betrat seine Mutter die Küche. Sie trug keinen Schleier.
Kein Angehöriger des Regenwildvolks hatte nach dem Tag, an dem Reyn am Konziltisch seinen Schleier gelüftet hatte, wieder einen angelegt. Wenn sie alle zu diesem neuen Bingtown gehörten, dann sollten sie sich auch alle in die Augen blicken können. Waren denn seine Schuppen, seine Auswüchse und seine kupferfarbenen Augen so
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