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Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt

Titel: Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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war kein Geräusch zu hören. Die Mannschaft schien vom Leid ihres Kapitäns genauso überwältigt zu sein wie von dem Dahinscheiden des Lebensschiffes. Schließlich brach Etta das Schweigen.
    »Kommt«, sagte sie zu Kennit. »Hier können wir nichts tun.
    Ihr solltet Euch mit Wintrow nach unten begeben und über alles reden. Der Junge braucht etwas zu essen und zu trinken.
    Eigentlich darf er das Bett noch gar nicht verlassen. Zusammen könnt Ihr vielleicht enträtseln, was als Nächstes zu tun ist.«
    Wintrow begriff, was sie tat. Das Verhalten des Kapitäns verunsicherte die Mannschaft. Es war besser, wenn er sich nicht blicken ließ, bis er sich wieder erholt hatte. »Bitte«, krächzte Wintrow und unterstützte Etta. Er musste von dieser schrecklichen, stillen Gestalt wegkommen. Diese graue Galionsfigur anzusehen war schlimmer, als einen verwesenden Leichnam zu betrachten.
    Kennit sah sie an, als wären sie Fremde. Seine Augen wurde ausdruckslos, als er sich zusammenriss. »Gut. Bring ihn nach unten und kümmer dich um ihn.« Seine Stimme war vollkommen emotionslos. Er musterte seine Mannschaft. »Geht auf eure Posten«, knurrte er. Einen Moment lang reagierten sie nicht. Einige schienen Mitleid mit ihrem Kapitän zu empfinden, aber die meisten starrten ihn verwirrt an, als würden sie den Mann nicht kennen. »Sofort!«, fuhr er sie an. Er hob nicht einmal seine Stimme, aber bei seinem Befehlston fuhren die Männer hastig auseinander. Im nächsten Augenblick war das Vordeck leer – bis auf Wintrow, Etta und Kennit.
    Etta wartete auf den Piratenkapitän. Kennit arbeitete sich mühsam vorwärts, klemmte die Krücke fest unter den Arm.
    Dann hüpfte er auf einem Bein von der Reling zurück und humpelte über das Vordeck zur Treppe.
    »Helft ihm«, flüsterte Wintrow Etta zu. »Ich komme zurecht.« Sie nickte kurz, ließ ihn allein und ging zu Kennit. Der einbeinige Mann akzeptierte ihre Hilfe ohne jeden Widerspruch. Das sah dem Piraten genauso wenig ähnlich wie die Gefühle, die er vorher gezeigt hatte. Wintrow sah zu, wie die Frau dem Kapitän liebevoll die Treppe hinunterhalf, und spürte dadurch noch deutlicher, wie allein er war. »Viviace?«, fragte er leise. Der Wind heulte, brannte auf seiner Haut und erinnerte ihn daran, dass er nackt war. Aber Viviace zu verlieren war für ihn eine genauso schmerzhafte Erfahrung wie die, dass sich seine Haut abschälte. Allerdings handelte es sich um eine andere Art Pein. Sein nackter Körper war eine kleine Unbequemlichkeit, verglichen mit der Einsamkeit, die er des Nachts empfand. In einem schwindelnden Moment wurde ihm klar, wie ungeheuer groß das Meer und die Welt um ihn herum waren.
    Er war nur ein Würmchen auf diesem hölzernen Deck, das sich auf dem Wasser wiegte. Vorher hatte er immer die Größe und Stärke von Viviace um sich herum gespürt, die ihn vor der weiten Welt schützte. Seit er als Kind sein Heim verlassen hatte, hatte er sich nicht mehr so winzig und allein gefühlt.
    »Sa«, flüsterte er. Ihm war klar, dass er eigentlich seinen Gott um Trost anflehen sollte. Sa war immer für ihn da gewesen, schon lange bevor er das Schiff bestiegen und sich mit ihm zusammengetan hatte. Einmal hatte er fest daran geglaubt, zum Priester bestimmt zu sein. Als er jetzt betete, um in Ehrfurcht nach dem Göttlichen zu greifen, erkannte er, dass die Worte auf seinen Lippen in Wahrheit eine Bitte waren, ihm Viviace wiederzugeben. Er schämte sich. Hatte dieses Schiff seinen Gott verdrängt? Glaubte er wirklich, dass er nicht ohne sie weiterleben konnte? Er kniete sich abrupt auf das dunkle Deck, aber nicht um zu beten. Seine Hände strichen über das Holz.
    Hier. Die Flecken müssten hier sein, wo sein Blut in ihre Planken eingedrungen war und ihn mit ihr in einer Verbindung vereinigt hatte, die er mit keinem anderen Lebewesen teilte. Aber als seine verstümmelte Hand schließlich seinen eigenen blutigen Handabdruck fand, war da nichts. Er spürte nichts weiter als die glatte Oberfläche des Hexenholzdecks. Er fühlte überhaupt nichts.
    »Wintrow?«
    Etta war gekommen, um ihn zu holen. Sie stand auf der Leiter und beobachtete ihn, während er auf Händen und Knien auf dem Vordeck hockte. »Ich komme«, antwortete er und stand taumelnd auf.
    »Noch etwas Wein?«, fragte Etta Wintrow.
    Der Junge schüttelte stumm den Kopf. Er sah, eingehüllt in das Laken von Kennits Bett, wirklich aus wie ein Junge. Etta hatte es ihm umgelegt, als er in die Kajüte gestolpert war. Seine

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