Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
seiner Koje in dem winzigen Raum. Etta wachte mit einem Ruck auf. Sie hatte Nachtwache gehalten.
»Wintrow!«, rief sie entsetzt, als er aufstand. »Warte! Nein, nicht! Du bist noch nicht gesund! Leg dich wieder hin! Komm zurück!« Sie schrie ihm die Worte hinterher, während er aus der Kabine stolperte und auf das Vordeck schwankte. Er hörte Lärm aus der Kapitänskajüte. Kennit rief nach seiner Krücke und nach Licht. »Etta, verdammt, wo bist du, wenn ich dich brauche?« Wintrow humpelte weiter, nur in sein Laken gehüllt.
Die kühle Nachtluft brannte auf seiner Haut. Die Matrosen, die Nachtwache hatten, riefen sich verblüffte Kommentare zu. Einer schnappte sich eine Laterne und folgte ihm. Wintrow achtete nicht darauf. Mit zwei Sätzen überwand er die Leiter zum Vordeck und stürzte weiter, bis er halb über der Reling hing.
»Viviace!«, rief er. »Bitte. Es war nicht deine Schuld. Es war niemals deine Schuld. Viviace!«
Die Galionsfigur malträtierte sich selbst. Sie fuhr sich mit ihren großen Holzfingern in ihre schwarzen Locken und versuchte, sie sich auszureißen. Sie grub ihre Nägel tief in Wangen und Augen. »Nicht ich!«, schrie sie in die Nacht hinaus. »Ich bin nicht ich! Ach, bei Sa, was bin ich anderes als ein obszöner Scherz, eine Missgeburt in deinen Augen! Lass mich gehen!
Lass mich sterben!«
Gankis war Wintrow gefolgt. »Was macht dir Kummer, Junge?«, fragte der alte Matrose. »Was quält das Schiff denn?«
Doch Wintrow hatte keine Augen für den Piraten, sondern achtete nur auf Viviace. Das Licht der Laterne erhellte eine entsetzliche Szenerie. So rasch die Nägel Wunden in Viviaces perfekte Wangen rissen, so rasch schloss sich das fasrige Material auch wieder. Die Haare, die sie sich ausriss, zerflossen in ihren Händen und wurden absorbiert. Ihre Mähne blieb unverändert dicht und glänzend. Wintrow betrachtete mit Entsetzen diesen Zyklus aus Vernichtung und Wiedergeburt. »Viviace!«, rief er und versuchte sich mit ihrem Wesen zu vereinen, um sie zu trösten, sie zu beruhigen.
Die Drachenkönigin erwartete ihn bereits. Sie wehrte ihn ebenso mühelos ab, wie sie Viviace in ihrer Umarmung festhielt. Sie war es, die das Schiff davon abhielt zu sterben.
Nein. Nicht nach all den Jahren der Unterdrückung, nach
diesen Zeitaltern voller Schweigen und Bewegungslosigkeit.
Ich werde nicht sterben. Wenn es das einzige Leben ist, das wir haben können, werden wir es leben. Sei still, kleine Sklavin.
Teile dieses Leben mit mir oder geh vollkommen zugrunde!
Wintrow war fasziniert. An diesem Ort, den er nur mit seinem Verstand erreichen konnte, fand eine fürchterliche Konfrontation statt. Die Drachenkönigin kämpfte um ihr Leben, während Viviace versuchte, es ihnen beiden zu nehmen. Er selbst kam sich wie ein Tuch vor, an dem gleichzeitig zwei Hunde zerrten.
Er wurde zwischen ihnen hin und her gezogen, von ihnen beinahe zerrissen, während sie beide um seine Loyalität kämpften und seinen Geist für sich beanspruchten. Viviace nahm ihn mit ihrer Liebe und ihrer Verzweiflung für sich ein. Sie kannte ihn so gut, und er kannte sie. Wie sollte sein Herz von ihrem abweichen? Sie zog ihn mit, und sie schwankten am Rand des vorsätzlichen Sprungs in den Tod. Der Abgrund des Vergessens lockte verführerisch. Es war die einzige Lösung, davon überzeugte Viviace ihn. Was blieb ihnen sonst? Dieses endlose Gefühl des Falschen, diese entsetzliche Bürde eines gestohlenen Lebens. Wollte er sich wirklich dafür entscheiden?
»Wintrow!« Kennit rief seinen Namen, als er sich die Leiter zum Vordeck hinaufzog. Wintrow drehte sich langsam zu ihm um und blickte ihm entgegen. Der Pirat hatte sein Nachthemd nur halb in seine Hose gesteckt. Es blähte sich im Wind auf.
Sein Fuß war nackt. Etwas in Wintrow registrierte, dass er Kennit noch nie so aufgelöst erlebt hatte. In dem ansonsten so kühlen und spöttischen Blick des Kapitäns lag unverhohlene Panik. Er fühlt uns, dachte Wintrow. Er beginnt, ein Band mit
uns zu knüpfen. Er spürt etwas von dem, was hier vorgeht, und es jagt ihm Furcht ein.
Etta reichte dem Kapitän die Krücke. Er packte sie und schwang sich über das Deck an Wintrows Seite. Als Kennit seine Schulter packte, war das wie der Griff des Lebens, der ihn von der Schwelle des Todes zurückriss. »Was machst du da, Junge?«, erkundigte sich Kennit ärgerlich. Dann veränderte sich seine Stimme, und er starrte entsetzt an Wintrow vorbei.
»Gott der Fische, was tust du meinem
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