Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
Schiff an?«
Wintrow drehte sich zu der Galionsfigur um. Viviace starrte die kleine Gruppe bestürzter Matrosen an, die sich auf dem Vordeck versammelt hatten. Ein Mann schrie auf, als ihre Augen plötzlich grün leuchteten – ihre Farbe wirbelte, während sie in der Mitte schwärzer waren als die Nacht. Jede Menschlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihre schwarzen Locken wehten im Wind und ähnelten jetzt eher einem Nest sich windender Schlangen. Die Zähne, die sie entblößte, waren viel zu weiß. »Wenn ich nicht gewinnen kann«, äußerten ihre Lippen die Gedanken der Drachenkönigin, »dann wird es niemand tun.«
Langsam drehte sie sich von ihnen weg. Sie hob die Arme, als wollte sie den dunklen Ozean umarmen. Dann legte sie sie langsam nach hinten, drückte die Hände auf den Rumpf des Schiffes.
Wintrow! Wintrow, hilf mir! Die flehentlichen Bitten von Viviace ertönten nur in seinen Gedanken. Mund und Kopf der Galionsfigur gehorchten nicht mehr Viviace. Stirb mit mir!, flehte sie ihn an. Beinahe wäre er ihrem Wunsch nachgekommen. Fast wäre er ihr in den Abgrund gefolgt. Doch im letzten Moment zuckte er zurück.
»Ich will leben!«, hörte er sich in die Nacht hinausrufen.
»Bitte, bitte, lass uns leben!« Einen Augenblick hoffte er, dass seine Worte ihren Entschluss zu sterben wenden könnten.
Eine merkwürdige Stille folgte seinen Worten. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Wintrow hörte, wie ein Seemann ein Kindergebet murmelte, doch dann drang ein anderes, leiseres Geräusch an sein Ohr. Es war ein anhaltendes, sprödes Knistern, wie Eis, das an der Oberfläche eines Sees bricht, wenn sich jemand leichtsinnigerweise zu weit hinauswagt.
»Sie ist fort«, flüsterte Etta. »Viviace ist weg.«
So war es. Selbst in dem schwachen Licht der Laterne war die Veränderung deutlich zu erkennen. Alles Lebendige war aus der Galionsfigur gewichen. Das Holz ihres Rückens und ihr Haar waren grau wie ein Grabstein. Kein bisschen Leben rührte sich in ihr. Ihre geschnitzten Locken trotzten starr und reglos dem leichten Wehen des Windes. Ihre Haut wirkte wie das Holz eines uralten Zaunes. Wintrow tastete mit seinem Verstand nach ihr. Er nahm eine schwache Fährte ihrer Verzweiflung wahr, wie ein schwindender Geruch in der Luft.
Dann war selbst das fort, als hätte jemand eine luftdichte Tür zwischen ihnen geschlossen.
»Die Drachenkönigin?«, murmelte er leise, wie zu sich selbst.
Aber wenn sie noch in ihm war, hatte sie sich für seine schwachen Sinne zu gut versteckt.
Wintrow holte tief Luft und atmete dann langsam aus. Er war wieder allein in seinem Verstand. Einen Augenblick später nahm er seinen Körper wahr. Die kühle Luft schnitt scharf in seine verheilenden Wunden. Seine Knie gaben nach, und er wäre auf das Deck gesunken, wenn Etta ihn nicht gestützt hätte. Er taumelte gegen sie. Sein Schorf schmerzte bei der Berührung, aber er war zu schwach, um vor ihr zurückzuweichen.
Etta sah traurig an ihm vorbei auf Kennit. Wintrow folgte ihrem Blick. Er hatte noch nie einen so resignierten Mann gesehen. Der Pirat beugte sich über die Bugreling und starrte auf Viviaces Profil. Seine Miene war verzerrt vor Sorge. In Kennits Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben, die Wintrow zuvor nicht gesehen hatte. Sein glänzendes schwarzes Haar und sein Schnurrbart betonten erschreckend seine gelbliche Haut.
Viviaces Dahinscheiden demoralisierte Kennit in einem Maß, wie es nicht einmal der Verlust seines Beines vermocht hatte.
Der Mann alterte direkt vor Wintrows Augen.
Kennit drehte sich um und sah Wintrow an. »Ist sie tot?«, fragte er steif. »Kann ein Lebensschiff überhaupt sterben?«
Sein Blick flehte, dass es nicht so sein möge.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Wintrow zögernd. »Ich kann sie nicht fühlen. Nirgendwo.« Der Abgrund in ihm war fast zu schrecklich, um ihn zu ertragen. Schlimmer als ein verlorener Zahn, eine entsetzlichere Verunstaltung als sein amputierter Finger. Ohne sie zu sein hinterließ eine furchtbare, schmerzende Lücke in ihm. Hatte er sich das wirklich einmal gewünscht?
Er musste verrückt gewesen sein!
Kennit drehte sich unvermittelt zu der Galionsfigur um. »Viviace?«, rief er fragend. »Viviace!«, brüllte er dann. Es war der wütende, verzweifelte Ruf eines verschmähten Liebhabers.
»Du darfst mich jetzt nicht verlassen! Du kannst doch nicht einfach verschwinden!«
Selbst der leichte Wind hielt scheinbar inne. Auf dem Deck des Schiffes
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