Zebraland
mir.
Mittwochnachmittag halte ich es nicht mehr aus. Abwarten und Trübsal blasen ist noch nie mein Ding gewesen. Ich packe ein übrig gebliebenes Exemplar der Periskop ein und mache mich auf den Weg zu Phils Haus.
Seine Mutter öffnet mir. »Ach, hallo, Judith. Philipp ist nicht da, er ist bei seinem Großvater. Das Ganze scheint ihn sehr mitzunehmen.«
»Ja?«, frage ich misstrauisch, erstaunt, dass Philipp seinen Eltern von unserem Streit erzählt hat.
Frau Weißenberg streicht eine Falte ihres Rockes glatt: »Ja, er hängt doch so an seinem Opa. Und dieser neue Schlaganfall vorletzte Woch e …« Ein tiefer Seufzer lässt ihre Dauerwelle beben. »Immerhin haben ihn die Ärzte schnell wieder entlassen. Ist wohl auch mit Reha nicht mehr viel zu mache n … Er ist ja auch schon über achtzig. Na ja, im Heim ist er wenigstens wieder in seiner vertrauten Umgebung.«
»Ähm, meinen Sie, ich kann mal vorbeigehen?«
»Oh natürlich! Das wird Philipp sicher aufmuntern«, antwortet Frau Weißenberg erfreut.
Ich hoffe es.
Als ich das Zimmer von Josef Weißenberg senior betrete, sitzt Phil mit dem Rücken zu mir am Bett des alten Mannes und liest ihm aus der Zeitung vor.
»Die Meldung hört sich nicht gut an«, kommentiert er gerade, als ich leise die Tür hinter mir schließe. »Das Gebiet steckt ja schon seit Längerem in einer Krise. Was meinst du, wird es Krieg geben, Opa?«
Aber Herr Weißenberg kann nicht mehr antworten. Der Schlaganfall scheint auch sein Sprachzentrum betroffen zu haben. Nur seine herunterhängende Unterlippe zittert, ein dünner Spuckefaden rinnt ihm aus dem Mundwinkel. Mit einem Taschentuch wischt Phil seinem Opa sanft den Speichel weg. Und plötzlich brandet eine Welle so schmerzlicher Zuneigung und Sehnsucht über mich hinweg, dass es mir fast den Atem nimmt.
»Hey, Phil«, sage ich mit belegter Stimme.
Er dreht sich um und sieht mich an der Tür stehen. Er zieht die Augenbrauen hoch, wie er es immer tut, wenn er überrascht ist. Ich kenne seine Gesten so gut, jede einzelne.
»Judith.« Phils Stimme klingt nicht unfreundlich, aber reserviert. An der plötzlichen Anspannung in seiner Körperhaltung kann ich sehen, dass er auf der Hut ist. »Was machst du denn hier?«
»Deine Mutter hat mir erzählt, wo du bist. Tut mir leid, das mit deinem Opa.«
»Ja, mir auch«, sagt Phil. Vermutlich sprechen wir hier nicht nur über seinen Opa, sondern auch über den Streit. Wir sind beide nicht besonders gut darin, einen Fehler zuzugeben.
An den Wänden hängen Fotos von blühenden Blumen. Es riecht nach Desinfektionsmittel und alten Menschen.
»Es gibt Neuigkeiten«, sage ich schließlich mit einem nervösen Blick auf seinen Opa.
»Tatsächlich?«, fragt Phil kühl. Ich erwarte, dass er mir vorschlägt, das Zimmer zu verlassen, damit wir unter uns sind. Doch er tut nichts dergleichen.
»Wir wollten Mose eine Falle stellen«, erkläre ich. »Wir haben einen Antwortbrief geschrieben und den Kummerkasten überwacht, bis er ihn sich holen komm t …«
»Keine üble Idee«, gibt Phil widerstrebend zu. Zum ersten Mal sehe ich einen Funken Neugier in seinen grauen Augen aufblitzen. »Und? Hattet ihr Erfolg?«
»Es war schwierig«, antworte ich. »Schließlich hätten wir eigentlich im Unterricht sein müssen. Heute Morgen wurde Ziggy während seiner Schicht von seinem Mathelehrer erwischt. Der hat nicht geglaubt, dass Ziggy schlecht ist. Wer im Flur rumlungern kann, kann auch den Unterricht besuchen, hat er gemeint.«
Phil murmelt ein paar wilde Flüche gegen Ziggys Mathelehrer.
»Als ich vorhin nachgeguckt habe, war unser Brief verschwunden. Stattdessen lag ein neuer von Mose im Kummerkasten.«
»Verdammt. Aber warum kommst du damit zu mir?«, fragt Phil schließlich. »Ich dachte, ich wäre als Ratgeber einstimmig abgewählt worden.«
Weil du uns fehlst. Du fehlst mir . Aber stattdessen sage ich: »Na ja, es scheint so, als hättest du Recht gehabt. Mose ist einfach nicht beizukommen.«
»Tja, wäre zur Abwechselung mal schön gewesen, nicht Recht zu haben«, murmelt Phil und sieht plötzlich erschöpft aus. »Gibt es eine neue Aufgabe?«
»Keine Ahnung. Ich hab den Brief noch nicht aufgemacht. Ic h … ich dachte, wir könnten das vielleicht zusammen tun.« In dem verzweifelten Versuch, die Distanz zwischen uns zu überbrücken, ihn wieder ins Boot, in die Gruppe zu holen, ziehe ich den Brief aus der Hosentasche. Ich halte ihn Phil hin wie ein Geschenk.
Er zuckt die Schultern. »Wie du
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