Zebraland
mich.
Judith
Durch die vergilbten Spitzengardinen fällt trübes Tageslicht. Phil, Anouk und ich sitzen wieder in Opa Weißenbergs Küche. Irgendwie wirkt der Raum heute schäbiger und enger als sonst. Vielleicht liegt das an Moses neuem Brief. Seufzend lese ich ihn noch einmal vor:
»Mir scheint, meine bisherigen Aufgaben haben ihren Zweck nicht erfüllt. Ihr versteht euch als Opfer, anstatt zu erkennen, was ihr wirklich seid: Täter. Die folgende Aufgabe soll euch dabei helfen, endlich klarer zu sehen.«
»Ach ja, wie konnte uns das bisher entgehen? Ist ja alles zu unserem Besten! Damit wir zu Reinheit und Erleuchtung finden!«, höhnt Phil.
Ich lese weiter:
»Um euer Gemeinschaftsgefühl ein bisschen zu stärken, ist diese Aufgabe eine, die ihr alle zusammen erfüllen müsst. Mose sagt: Ihr sollt euch gegenseitig fotografieren. Ihr sollt nackt sein und das Nummernschild des Mercedes in den Händen halten.«
»Wie in so einer Verbrecherkartei?«, unterbricht mich Anouk verstört.
»Genau so«, antwortet Phil heiser. »Diese r …«
Er bricht ab. Anscheinend findet er kein Wort, das passt.
Am nächsten Nachmittag scheint die Sonne. Aber alle Vorhänge in Phils frisch renoviertem Wohnzimmer sind zugezogen. Kein Sonnenstrahl und kein fremder Blick können hier eindringen.
Die gläserne Kuheuterlampe wirft ein seltsam unwirkliches Licht auf die in heiterem Hellblau gestrichenen Wände. Das Ganze hat etwas von einer Pyjamaparty. Wir müssen ein lächerliches Bild abgeben, in unseren Bademänteln, einer hilfloser als der andere. Nur Ziggy ist noch im Bad.
»Wo bleibt der denn so lange?«, motzt Philipp.
»Eigentlich können wir schon mal anfangen, oder?«, schlage ich vor.
Wir gucken rüber, wo das Stativ mit der Kamera steht, das sich Anouk von ihrem Vater ausgeliehen hat.
»Ich fasse es nicht, dass wir das wirklich tun«, seufzt Anouk, die in einen zart gemusterten Kimono gehüllt neben mir auf dem Sofa kauert.
Der Verband über ihrem Tattoo ist inzwischen ab. Aber sie versteckt es immer noch unter einem Seidentuch, das sie wie ein Armband ums Handgelenk trägt.
Phil sagt gar nichts. Er hängt in einer Ecke in dem einzigen Sessel und hat den Kopf in die Hände gestützt. Seine weißen, mageren Beine ragen unter dem Saum des Bademantels hervor. Ich frage mich, was ihm mehr zusetzt: der Gedanke, dass ein anderer Mann seine Freundin nackt sehen könnte, oder dass Mose so plötzlich sein Aufgabensystem geändert hat.
»Ich frag mich, warum Ziggy noch nichts machen musste«, murmelt Phil. Aha, das stört ihn also.
»Kommt schon, Leute. Einer muss jetzt anfangen«, versuche ich es noch mal.
Wie zu erwarten war: keine Freiwilligen.
»Mach ich’s halt«, brumme ich. Bevor ich es mir anders überlegen kann, lasse ich meinen Bademantel fallen.
Seit ich erwachsen bi n – so gut wie erwachse n –, hat mich niemand nackt gesehen. Ich merke, wie Phil versucht nicht hinzuschauen und es doch tut. Seine Blicke lassen meine Haut prickeln. Komisches Gefühl. Zumal er unter seinem Bademantel ja auc h …
Heiße Röte schießt mir ins Gesicht. Ich bin aus dem Gleichgewicht, taumle innerlich: Ob er mich attraktiv findet? Ob er auch solche Gedanken über mich hat?
Anouk kann mit dem Thema Nacktheit anscheinend unbefangener umgehen als wir beide. Sie ist zur Kamera hinübergegangen und verstellt das Objektiv.
»Judith, könntest du bitte ein bisschen nähe r … ich weiß, ist blöd, abe r … hm, und jetzt noch das Schild?«
Ich hebe das abmontierte Nummernschild hoch und halte es vor mich. Die Parodie eines Feigenblatts.
»Das hier ist ganz eindeutig Döblins Stil«, knurrt Phil aus seiner Ecke. Vielleicht um diese seltsame Stimmung zu vertreiben. Vielleicht nutzt er aber auch nur die Gelegenheit, um auf Carsten herumzuhacken. Seit sich herausgestellt hat, dass der als Chefredakteur gar keine so schlechte Figur macht, ist Phil von seiner Schuld überzeugter denn je. »Ich sag euch, Döblin ist einer von diesen Typen, die irgendwann Amok laufen und die Schule in Schutt und Asche legen. Ständig rennt er mit seiner Kamera herum, bearbeitet die Fotos dann stundenlang am Computer. Passt doch glasklar ins Profil: gehemmt, wenig Selbstvertraue n …«
» … du hast den Sprachfehler vergessen. Der gehört auch ins Profil des klassischen Amokläufers«, sage ich gereizt.
Phil schweigt beleidigt.
Plötzlich klickt der Auslöser der Kamera. Sekundenlang blendet mich der Blitz. Ich zucke zusammen. Der Ausdruck
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