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Zehn Milliarden (German Edition)

Zehn Milliarden (German Edition)

Titel: Zehn Milliarden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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schon gar keine Ahnung. Was hast du denn vor?«
    »Wart’s ab«, antwortete er mit geheimnisvollem Lächeln und hing ans Telefon. Nach einem kurzen Gespräch, das er so leise führte, dass sie keinen Ton mitbekam, sagte er zufrieden: »Es klappt, komm.« Sie stiegen die steile Treppe hinauf zur Kathedrale. Vor dem Tor zum Glockenturm hielt er an und telefonierte nochmals kurz.
    »Was ist jetzt?«, fragte sie, immer noch ein wenig außer Atem.
    »Abwarten.« Allmählich begriff sie, was er wollte. Sie schaute hinauf zum Turm, der Furcht einflössend hoch in den schwarzen Nachthimmel ragte.
    »Nein, das ist nicht dein Ernst. Da hinauf willst du?« Er nickte grinsend.
    »Du hast es erraten. Monsieur Armand wird uns gleich hier abholen.« René Armand war schon seit vielen Jahren guet, Turmwächter. Fünf Nächte in der Woche verbrachte er auf dem Turm der Kathedrale von Lausanne, um die Stunden auszurufen. Nick kannte ihn seit seiner Zeit am Gymnasium, als er eine Arbeit über die Geschichte seiner Stadt schreiben musste. »Monsieur Armand war früher Lehrer, aber er ist trotzdem ein witziger Kauz und ein Philosoph, du wirst sehen.« Sie schüttelte nur den Kopf und starrte die unendlich hohe Wand hinauf.
    »Da hinauf soll ich?«
    »Wenn meine alten Knochen das können, schaffen Sie das locker, junge Dame«, sagte eine melodische Stimme hinter ihr. Der Turmwächter hatte das Tor geöffnet und winkte sie herein. Langsam aber stetig schritt er ihnen stumm voran die Jahrhunderte alte steinerne Treppe hinauf. Mit seiner großen, kräftigen Gestalt musste er hin und wieder den Kopf einziehen im engen, kalten, nicht enden wollenden Treppenhaus. Endlich erreichten sie eine hell erleuchtete hölzerne Plattform, auf der sich eine Art Häuschen befand, gleich neben dem offenen Glockenstuhl. »Meine Wohnung«, schmunzelte Armand und ergänzte mit einem Blick auf die mächtige Glocke: »Manchmal etwas laut.«
    »Sie wohnen wirklich hier?«, fragte Emily ungläubig. Er schüttelte seine weiße Mähne.
    »Nur nachts, wenn ich Dienst habe. Möchten Sie etwas trinken? Ich habe einen schönen Pinot Gris hier für meine Gäste.« Es war offensichtlich eine rhetorische Frage, denn er goss den Wein schon in die bereitgestellten Gläser. »Santé. Ich trinke nur Wasser während der Arbeit.«
    »Gibt es denn viele Besucher hier oben?«
    »Nicht regelmäßig, aber doch erstaunlich häufig verirrt sich jemand hierher.« Sein Blick wanderte zu Nick. »Kaum einer allerdings scheint mir so gottlos zu sein wie ihr Bruder.« Nick lachte.
    »Das war zu meiner nihilistischen Zeit«, bemerkte er zu Emily gewandt, als wäre damit alles gesagt. »Nietzsche, Heidegger, die vergebliche Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Auflehnung gegen alle vermeintlichen Wahrheiten, du weißt schon.«
    »Alles klar«, spottete sie. »Und jetzt hast du den Sinn des Lebens gefunden?«
    »Nein, hat er nicht«, antwortete der Turmwächter bestimmt. »Dazu ist er viel zu intelligent.«
    »Nein, hab ich nicht, da hörst du es«, grinste Nick. »Aber ich habe Spaß am Leben und möchte keine Sekunde missen.« Sie folgten Armand auf die Galerie, die rund um die Pyramide der Turmspitze führte. Emily fröstelte im kühlen Nachtwind, doch der überwältigende Ausblick auf die Dächer und beleuchteten Gassen der Stadt, den dunklen See mit der Lichterkette am Ufer und die funkelnden Sterne über ihren Köpfen ließ sie die Kälte vergessen. Mystisch und unwirklich, feierlich irgendwie, erschien ihr der Aufenthalt in diesem alten Gemäuer in schwindelerregender Höhe unter freiem Himmel. Mit einem Mal fühlte sie sich klein und unbedeutend, und mit ihr schrumpften auch ihre Probleme. Es war, als hätte die Turmbesteigung die Dinge wieder in die richtige Perspektive gerückt.
    »Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich bereit machen«, sagte der Turmwächter. Er zog sich kurz in seine Wohnung zurück und kehrte in einen schwarzen Mantel gehüllt und mit einem Schlapphut auf dem Kopf auf die Galerie zurück. Punkt elf Uhr trat er an die Brüstung, formte mit seinen Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllte lauthals: »C'est le guet, il a sonné onze« - »Hier ist der Wächter, es hat elf geschlagen«. Diese Prozedur wiederholte er noch dreimal in alle Himmelsrichtungen. Als er von seinem einsamen Rundgang zurückkehrte, sagte er lächelnd: »Was ich hier tue ist völlig sinnlos, aber ich liebe das Ritual und den Ort.«
    »Was dem Ganzen wieder Sinn gibt, schätze ich«,

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