Zehn Milliarden (German Edition)
auf einzelne Reize reagierten. Diese neocortical columns, die NCCs, waren dafür verantwortlich, dass seine Nanobots so erfolgreich Gedanken lesen konnten.
»Wo ist Jodie?«, fragte er unvermittelt. Er hatte das ganze Team begrüßt, außer der Projektleiterin.
»Weißt du es noch nicht? Sie hat vor einem Jahr geheiratet und ist jetzt auf Mutterschaftsurlaub«, antwortete Paul und verzog dabei das Gesicht zu einer verschwörerischen Grimasse. Nick konnte ihn gut verstehen, denn wenn je eine Frau nichts mit Männern am Hut und nur für ihre Arbeit gelebt hatte, dann war es die gute Jodie.
»Wie ist denn das passiert?«
»Keine Ahnung, aber seither glauben wir hier wieder an Wunder«, lachte Paul. »Du willst sicher wissen, was wir hier so ohne dich angestellt haben.« Er gab Nick einen kurzen Überblick über die neusten Entwicklungen und zeigte auf einen der Bildschirme auf seinem chaotischen Schreibtisch. »Wir sind ein ganzes Stück weiter gekommen mit der Simulation der Reizverarbeitung, wie du hier siehst. Die NCCs in der Mitte empfangen simulierte Lichtreize und feuern ihre Kollegen, die für Augenmuskelbewegungen zuständig sind. Die Reaktionskette entspricht hundertprozentig den physiologischen Messungen. Ist doch schon was, oder?«
»Zweiwegkommunikation«, murmelte Nick nachdenklich. Wenn diese Simulation tatsächlich den natürlichen Vorgang abbildete, hatten sie den Schlüssel für echte Mensch - Maschine Hybriden in der Hand. Mit diesem Wissen konnte man im Prinzip gezielt Hirnfunktionen erweitern oder defekte Hirnregionen teilweise durch Computer ersetzen. Eine äußerst interessante Perspektive für NanoClin.
»Fantastisch«, war der einzige Kommentar, der ihm dazu einfiel. »Wie groß ist euer Zerebralkortex jetzt?«
»Klein, immer noch sehr klein. Die graue Masse, die wir hier simulieren, entspricht noch nicht einmal dem Hirn einer Mücke. Zurzeit sind wir bei 300'000 Neuronen.«
»Na ja, wenn ihr das zweihundert Mal größer hinkriegt, seid ihr immerhin schon bei der Ratte.« Paul lachte.
»Wie du weißt, ist es nicht unser Ziel, ein künstliches Gehirn zu erschaffen. Aber wer weiß, was entsteht, wenn die Simulation noch um ein Vielfaches umfangreicher wird. Physiologisch unterscheidet sich das Hirn einer Ratte von unserer grauen Masse mit ihrem komplexen Bewusstsein ja eigentlich nur in der Anzahl der Neuronen.« Nick musste ihm zustimmen. Diese unbewiesene Vermutung, dass aus dem Zusammenspiel einer immer größeren Zahl relativ einfacher Bausteine schließlich spontan etwas derart unvorstellbar Komplexes wie das menschliche Gehirn entstehen könnte, diese Hoffnung war einer der wichtigsten Beweggründe, weshalb er sich selbst für die Forschung auf diesem Gebiet entschieden hatte.
»Ist mir schon klar, Paul. Aber bringt euch rechtzeitig in Sicherheit, bevor Skynet die Kontrolle übernimmt«, spottete er. »Ihr scheint ja recht gut voranzukommen ohne mich.«
»Hast du daran gezweifelt?«, lachte Paul. »Aber im Ernst, wir sind gespannt zu hören, was du getrieben hast.« Er konnte nicht allzu viel über seine Arbeit preisgeben, aber die eine oder andere Geschichte wollte er schon loswerden.
»Wie wär’s mit einem anständigen Lunch, zum Beispiel in der Rôtisserie der Auberge du Raisin? Frischer Saibling, Soufflé mit reichlich Grand Marnier, ihr wisst schon. Ihr seid eingeladen.« Die Kollegen erhoben die Pappbecher mit ihrem sauren Kaffee und riefen im Chor:
»Ave, Caesar!«
»Und danach in Formation die Avenue d’Ouchi hinunter auf den Blades«, feixte Paul.
»Sag bloß, ihr macht solchen Blödsinn immer noch.« Pauls Antwort wurde vom Zirpen seines Telefons unterbrochen. Er hörte wortlos zu, fragte dann leise: »Wo ist sie jetzt?« Er war kreidebleich und seine Hand zitterte, als er das Gerät wieder in die Tasche steckte und sich verstört an die Kollegen wandte: »Ich muss weg - meine Schwester - ich melde mich wieder, tut mir leid.«
Auf dem schnellsten Weg fuhr er ins Universitätsspital, wo man vor wenigen Minuten seine Schwester in kritischem Zustand eingeliefert hatte: Selbstmordversuch, hoher Blutverlust. Warum nur , fragte er sich auf dem ganzen Weg. Die entsetzliche Angst, dass Emily in diesen Minuten sterben könnte, mischte sich mit irrationaler Wut und Enttäuschung. Warum tut sie uns so etwas an? Zerfressen von Selbstvorwürfen und mit einem Kloß im Hals, der ihn bis zur Übelkeit würgte, stürmte er in die Notaufnahme.
»Nick, beruhige dich. Sie wird
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