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Zehn Milliarden (German Edition)

Zehn Milliarden (German Edition)

Titel: Zehn Milliarden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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durchkommen«, versicherte seine Mutter beschwichtigend.
    »Maman, wo ist sie? Ich muss zu ihr.«
    »Sie können jetzt nicht zu ihr«, wehrte die Krankenschwester freundlich aber bestimmt ab. »Ihre Schwester ist im Behandlungszimmer. Sie hat sehr viel Blut verloren, aber sie ist außer Lebensgefahr, Monsieur Sears.«
    »Ich werde Blut spenden, wo ...« Die Mutter legte die Hand auf seinen Arm und sagte ruhig:
    »Nick, das geht nicht.«
    »Was soll das? Natürlich kann ich ihr Blut spenden.« Seine Mutter schüttelte traurig den Kopf, nahm ihren Sohn zur Seite und sagte leise:
    »Emily ist nicht deine Schwester.« Er glaubte, sich verhört zu haben. Verstört blickte er sie an, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Hatte sie wieder getrunken? Seit Vater nach Genf gezogen war, schien sie öfters zur Cognacflasche zu greifen. »Dein Vater ist nicht Emilys Vater, Nick.«
    »Nicht Emilys Vater«, wiederholte er albern.
    »Es tut mir leid, ich wollte es euch schon längst sagen, aber ich hatte nie den Mut dazu.«
    »Weiß sie es?«, fragte er zögernd. Sie schüttelte den Kopf.
    »Sag ihr bitte nichts. Sie soll es von mir erfahren.« Nick betrachtete mit leerem Blick die namenlosen Lithografien an der Wand, schaute zum Fenster hinaus auf den Park über dem See, ohne etwas zu sehen. Er war völlig verwirrt und verunsichert, als wäre sein Leben, so wie er es kannte, plötzlich wie ein schöner Traum geplatzt. Mit weichen Knien setzte er sich neben seine Mutter, als sie mit ihrer Beichte begann. Sie wurden nur kurz vom Arzt unterbrochen, der ihnen versicherte, dass es Emily den Umständen entsprechend gut ging. Sie war jetzt auf der Station und brauchte Ruhe.
Genf
     
    Nick überquerte die Fußgängerbrücke beim Quai du Mont Blanc in großen Schritten. Das Confédération Centre lag nur wenige hundert Meter von hier entfernt am anderen Rhôneufer, doch der kurze Weg genügte, die Kälte durch die Kleider kriechen zu lassen. Über ihm wölbte sich ein stahlblauer, fast wolkenloser Himmel, aber der heftige Ostwind, der vom See her wehte, die berüchtigte Genfer Bise, pfiff ihm gnadenlos um die Ohren. Er zog die Jacke noch enger zu, klappte den Kragen hoch und beeilte sich, das schützende Gebäude zu erreichen. Sein Vater war einer der fünf Partner der Banque Edouard Junod et Cie., deren diskrete Büros zwei der oberen Stockwerke des Centre belegten. Ursprünglich als amerikanischer Investmentbanker mit einem Vierjahresvertrag nach Zürich beordert, hatte sein Vater sich nach der Heirat in der Westschweiz niedergelassen und war schnell in die obersten Teppichetagen aufgestiegen. So lange Nick ihn kannte, war er stets einer der ganz wichtigen Geschäftsleute gewesen. Selbst beim täglichen Jogging am Ufer des Lac Léman steckte nicht der Knopf eines MP3 Players in seinem Ohr, sondern der Kopfhörer seines Telefons. Nick betrat die Brasserie im Innenhof des chromglänzenden Konsumtempels und schaute sich um. Hätte er ihm nicht gewinkt, er hätte seinen Vater kaum wiedererkannt. Der sportlich gestählte Körper, die kantigen Gesichtszüge waren verschwunden, Albert Matthew Sears jetzt ein übergewichtiger alter Mann mit Doppelkinn. Seine zugleich einnehmende und dominante Art, sein Charisma, allerdings hatte er nicht verloren. Er stand auf und begrüßte seinen Sohn energiegeladen und mit dem gleichen kraftvollen Händedruck wie früher.
    »Nick, schön, dass du da bist. Siehst gut aus.«
    »Danke, ja, ist lange her«, antwortete Nick etwas verlegen. Er bestellte sich einen Kaffee und nahm ein Croissant aus dem Körbchen. Nach ein paar Bissen sagte er:
    »Sie hat es mir gesagt.« Das Lächeln auf dem Gesicht seines Vaters erstarb.
    »Dann verstehst du vielleicht jetzt besser, warum ich nicht mehr in Lausanne bleiben konnte.«
    »Nein, tue ich nicht«, fuhr Nick auf. »Es geht Mutter gar nicht gut, und Emily wäre beinahe gestorben. Die beiden brauchen dich jetzt. Auch wenn Emily nicht deine leibliche Tochter ist, hast du sie doch als eigenes Kind großgezogen. Die paar genetischen Unterschiede ändern doch nichts daran, dass wir immer eine Familie waren und noch sind.« Sein Vater blickte ihn traurig an. Die Energie schien ihn plötzlich zu verlassen, als er leise zu erzählen begann.
    »Vor ein paar Monaten habe ich im Schreibtisch zu Hause ein Dokument gesucht. Dabei ist mir ein Papier in die Hände gefallen, das ich noch nie gesehen hatte: das Resultat eines Gentests, an Mary adressiert. Das Papier war über zehn

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