Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
wolkenlosen, milden Herbsttages hatten sich die meisten Mitglieder des Tannenberg-Clans im gemeinsam genutzten Innenhof der Wohnanlage versammelt. Aufgrund seiner windgeschützten Lage und der kräftigen Sonneneinstrahlung war er immer noch wohlig temperiert. Heiner stand am Grill und briet Würstchen. Kurt, der imposante Familienhund, saß mit triefender Zunge daneben und ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen.
Sein jüngerer Bruder hockte am großen Gartentisch und labte sich an einem frischen Hefeweizen, das er sich gerade eingeschenkt hatte. Er nahm einen tiefen Schluck und leckte sich genüsslich den Schaum von den Lippen. Er war ziemlich geschafft. Den Nachmittag hatte er damit zugebracht, Johannes Zörntlein detailliert über den aktuellen Ermittlungsstand zu informieren. Anschließend war er mit ihm zu den beiden Tatorten gefahren, die sein BKA-Kollege ausführlich inspizierte.
Besonders die beiden Bäume, von denen aus der Heckenschütze gefeuert hatte, interessierten ihn. Er kletterte sogar hinauf und zielte mit einer imaginären Waffe in Richtung der Anschlagsorte. Danach waren die beiden Männer zur Kriminalinspektion am Pfaffplatz zurückgekehrt, wo in Tannenbergs Büro inzwischen tatsächlich ein zweiter Schreibtisch stand. Obwohl ihm Zörntlein alles andere als unsympathisch war, hatte er doch ein wenig Angst vor der räumlichen Nähe, die dieses Arrangement mit sich brachte.
Na ja, was soll’s, dachte er, während er ein weiteres Mal das Weizenbierglas an seinen Mund heranführte. Erstens dauert seine Abordnung nicht ewig, zweitens kann ich mich ja einfach dem Ganzen entziehen, indem ich mich häufiger als sonst aus dem K 1 abseile: in die Kriminaltechnik, in die Pathologie, zu allen möglichen Außenterminen.
Und drittens ist Johannes ein echt netter Kerl. Normalerweise duze ich mich ja nicht gleich mit jedem, aber er hat es so zwanglos rübergebracht, dass ich gar nicht anders konnte. Schmunzelnd knetete er sein Kinn. Doch, der hat irgendwas: er ist höflich, charmant und sieht spitze aus. Kein Wunder, dass die Frauen auf ihn fliegen. Da muss ich wohl mordsmäßig aufpassen, dass er mir Hanne nicht ausspannt.
Sein versonnener Blick schwebte hinüber zu Johanna von Hoheneck, die ihm schräg gegenüber saß und auf deren Oberschenkel die kleine Emma herumhopste. Amüsiert beobachtete er das muntere ›Hoppe-hoppe-Reiter-Spiel‹ der beiden.
Unwillkürlich musste er an die Entführung seiner Großnichte vor einiger Zeit denken. Sie war damals in einem Kellerverlies eingesperrt worden, das die skrupellosen Täter am Ende sogar geflutet hatten. Quasi in letzter Sekunde konnte sie gerettet werden. Die Erleichterung über diesen glücklichen Ausgang war natürlich riesig gewesen. Doch schon bald darauf wurde die Euphorie durch die Angst ersetzt, dass der kleine Sonnenschein der Familie in Anbetracht dieser Extremsituation ein Trauma erlitten haben könnte.
Die Türglocke befreite Wolfram Tannenberg von der schmerzlichen Erinnerung an Emmas Entführung, für die er der konkrete Anlass gewesen war und die ihm auch heute noch Albträume verursachte.
Heiner eilte die wenigen Meter zu seinem in der Beethovenstraße gelegenen Elternhaus. Er trippelte die Stufen hinauf und verschwand in dem vom Hof her uneinsehbaren Treppenhaus. Kurz darauf hörte man gedämpftes Stimmengemurmel. Heiner zog hinter sich die Tür zu, betrat den Innenhof und pflanzte sich neben seinem Bruder auf. Er stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an.
»Was glaubst du denn, wer eben gekommen ist und jetzt hinter der Hoftür steht?«, fragte er mit einem schwer zu interpretierenden Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Schadenfreude und Mitleid zu taxieren war.
Tannenberg zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Du hast die Person schon längere Zeit nicht mehr gesehen«, gab ihm Heiner einen Tipp. »Wenn du immer noch keine Idee hast, dann rate doch einfach mal.«
Nach einer kleinen Denkpause entgegnete sein Bruder: »Einer meiner alten Klassenkameraden?«
»Falsch.«
Unschlüssig schob Tannenberg die Unterlippe vor und brummte nachdenklich. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper und sein Gesicht leuchtete auf. »Mein herzallerliebster holländischer Freund und Kollege Benny de Vries?«
»Nein, auch falsch.«
In Tannenbergs Gesicht machte sich Enttäuschung breit. »Schade. Dann verrat’s mir halt. Oder soll ich aufstehen und selbst das Geheimnis lüften.«
Heiner
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